Der Herr der Unruhe
und teils aus gefor m tem Ton‹«, wiederholte er murmelnd eine Passage aus dem Buch des Propheten Daniel. Schon immer hatte ihn die B e schreibung des vom babylonischen König Nebukadnezar im Traum gesehenen Standbildes fasziniert. Nico begann vorsichtig Druck auf die Mauer auszuüben. »›Du schautest weiter, bis ein Stein herausgehauen wurde, nicht mit Hä n den.‹« Seine Rezitation wurde zu einem leisen Singsang. »›Und er schlug das Bild an seine Füße aus Eisen und g e formtem Ton und zermalmte sie.‹«
Die in der Mauer eingeschlossene Spannung befreite sich jäh unter seinen Fingern. Ein großes Stück stürzte polternd ein. Dahinter kam ein zerstörtes Zimmer zum Vorschein und ein klaffendes Loch in der Außenwand, eine unrege l mäßig gezackte Einschlagstelle, durch die er ein Stück Himmel sah.
Nico hörte, wie sich jemand an der Tür hinter ihm zu schaffen machte. Rasch stieg er durch die Bresche in den Nebenraum. Mit wenigen Schritten war er bei der Öffnung, die ins Freie hinausführte; ihr Durchmesser betrug ungefähr einen halben Meter. Er spähte zur Straße hinab. Direkt u n ter ihm – er konnte sein Glück kaum fassen – stand ein Mannschaftswagen. Über der Ladefläche war eine Plane gespannt. Zwölf oder fünfzehn Schritte entfernt erzählten sich zwei bewaffnete Posten vermutlich Witze; der dickere von beiden bog sich gerade vor Lachen. Ihr Lärmen musste sogar das Rumpeln über ihren Köpfen übertönt haben. Nico begann leise zu summen.
Nebenan krachten Gewehrkolben gegen die Tür, während er durch das Loch hinauskletterte. An der glatten Auße n mauer fanden seine Füße nirgends Halt. Die beiden Sold a ten auf der Straße hatten ihn noch nicht bemerkt. Sich an dem rauen Rand des Einschussloches festklammernd, stemmte er sich einen Moment mit den Füßen gegen die Fassade, um sich gleich darauf mit dem rechten Bein abz u stoßen.
Um ein Haar hätte er den Lastwagen verfehlt und wäre hart auf dem Boden aufgeschlagen. So aber prallte er gegen die durchhängende Plane und rutschte – nicht ganz freiwi l lig – außen am Fahrzeug hinab. Unbeschadet erreichte er den Boden, wo er kurz, aber heftig mit dem Pflaster der Piazza Umberto I. Bekanntschaft machte. Als er sich wi e der hochrappelte, sah er den Dünneren der beiden Wachle u te mit dem Finger auf ihn zeigen. Der andere riss geistesg e genwärtig seine Maschinenpistole hoch und wollte das Fe u er eröffnen. Das einzige Geräusch, das die Waffe von sich gab, stammte von dem herausfallenden Magazin. Der zwe i te Posten machte dieselbe Erfahrung.
»Pech gehabt!«, rief Nico den reichlich verwirrten Sold a ten zu, die viel zu spät auf die Idee kamen, ihn zu verfo l gen. Schon war er herumgewirbelt und eilte davon. Als er um die Hausecke bog, verloren sie ihn aus den Augen.
20. KAPITEL
Der Herr der Unruhe
Nettunia, 1944
Wenn der Fuchs sich blicken lässt, fliehen die Kaninchen unter die Erde. Nicht anders verhielt sich Nico. Nach se i nem Entkommen aus dem Garnisonsgebäude war er in der Altstadt untergetaucht. Buchstäblich. Er hatte sich in die Tunnel hinabbegeben und die Suchtrupps der Wehrmacht wie eine Flutwelle über sich hinwegschwappen lassen. In den Höhlen wurde er wie der verlorene Sohn begrüßt. Nur noch wenige Nettunier harrten unter der Stadt aus. Unter ihnen befand sich auch Signora Tortora.
»Na bist du endlich wieder da, Jungchen?«, begrüßte sie ihn.
Nico erzählte dem Überrest der »Höhlenmenschen« von den dramatischen Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden und richtete das Wort dann wieder direkt an die Witwe mit den sich ringelnden Seidenstrümpfen.
»Sie haben Ihre Augen und Ohren doch überall, Signora. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten über Laura Manzini und ihren Vater?«
»Das will ich meinen!«, grunzte sie. »Die Familie und ihr Personal befinden sich unter Arrest.«
»Was?«
Die Tortora kicherte. »Das hat sich der Kerl selbst zuz u schreiben. Na, vielleicht hast du auch ein bisschen dazu beigetragen. Jungchen. Die Wehrmacht hat seinen Palazzo umstellt. Man ist sich wohl nicht einig, was man mit dem Gouverneur anfangen soll.«
»Das kann stimmen. Bei der SS hat er wohl immer noch ein paar hoch stehende Freunde. Mir liegt der Gedanke wie ein Stein im Magen, dass Laura ihre Rettung diesem Jude n jäger Kappler verdanken könnte.«
»In der Wehrmacht soll es ein paar Leute geben, die Manzini am liebsten in seinem Palazzo ausräuchern wü r den. Du
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