Der Herr der Unruhe
mehr aufhalten können. Entgegen dem ausdrücklichen Rat der Tortora – die Stadt lag immer noch unter einer Glocke aus Explosionen und Maschinengeweh r feuer – kehrte Nico an die Oberfläche zurück. Es war kurz nach sieben, und die Dämmerung hatte bereits eingesetzt.
Sobald er die Straße betrat, geriet er auch schon in B e drängnis. Jemand schoss auf ihn. Mit Mühe entkam er in eine Seitengasse. Die deutsche Gegenwehr war wohl eher konfus, aber sie verhinderte sein direktes Durchkommen zum Palazzo Manzini. Um die versprengten Einheiten zu umgehen, musste er immer weiter nach Süden ausweichen. Endlich gelang es ihm, die Altstadt zu betreten. Auch hier huschten Gestalten durch das Zwielicht, deren Waffen ihn zu immer neuen Haken zwangen. Plötzlich stand er an der westlichen Stadtmauer und blickte aufs Meer hinaus.
Es war ein unglaublicher Anblick. Das Meer wimmelte nur so von allen möglichen Seefahrzeugen. Große La n dungsschiffe lagen am Hafen wie auch an den seichten Ste l len des Strandes und spuckten Männer oder ganze Lkws aus. Andere nahmen bereits wieder leere Transporter auf. Für jeden Zweck schien es ein besonderes Vehikel zu g e ben. Einige legten einen Schleier aus Rauchwolken über das Meer, sodass die wahre Größe dieser Invasionsarmee unmöglich zu erkennen war. Andere Schiffe beantworteten die noch vereinzelt aufflackernde Gegenwehr aus den deu t schen Geschützständen mit Granatfeuer. Am erstaunlich s ten fand Nico aber die großen Ballone, die wie riesige si l berne Fische am Himmel hingen. Hatte er, wie Signora To r tora behauptete, diesem Spektakel den Weg geebnet? Nein, das mochte er nicht glauben. Plötzlich prasselte in unmi t telbarer Nähe eine Gewehrsalve in die Stadtmauer. Nico erwachte aus seiner Starre und zog sich wieder in die Ga s sen zurück.
Er musste zum Palazzo Manzini, zu Laura. In der Nähe hörte er das Getrappel von Stiefeln. Er duckte sich hinter einem Treppenaufgang. Das waren keine deutschen, so n dern amerikanische Soldaten! Sie eilten über die Piazza Vittorio Emanuele III. zielstrebig auf die Via dei Quartiere zu. Offenbar hatte ihnen jemand genaue Pläne von dem Labyrinth aus Gassen und Plätzen verschafft. Als der Trupp endlich außer Sicht war, setzte Nico seine waghalsige Al t stadtdurchquerung fort. Durch die Via Colonna gelangte er auf die Piazza Battisti, von wo aus er sich an die Rückfront des Manzini-Palastes heranarbeiten wollte. Dabei stieß er auf ein unerwartetes Hindernis.
Oberhalb der Freitreppe von San Giovanni stand ein deu t scher Panzer, aus dessen Heck Flammen schlugen. Das allein hätte Nicos Sturmlauf zu Laura vermutlich kaum bremsen können – das Feuer war nicht besonders groß –, aber aus der Stiftskirche drangen Stimmen.
Was, wenn sich Laura darin befand? Es wäre immerhin möglich, dass ihr Vater sie zur Einkehr oder zum Schutz dorthin geschickt hatte. Aber selbst wenn sie nicht in dem Gebäude war, musste er den Eingeschlossenen helfen. Bei einer Ausbreitung des Feuers würde sich der Rauch in jeden Winkel ausbreiten. Ihnen drohte der Erstickungstod, selbst unten in der Krypta – nur wenige kannten, wie Donatello gesagt hatte, den dort verborgenen Zugang in die Höhlen.
Warum waren die Übriggebliebenen der Stadt überhaupt in die Kirche geflohen? Glaubten sie, die Madonna delle Grazie, die oberste Schutzheilige der Stadt, würde Bomben und Granaten von ihnen fern halten? Soweit er gehört hatte, war das verehrte Bildnis selbst schutzbedürftig – man hatte es im letzten Monat nach Rom gebracht, um es vor Zerst ö rung und Diebstahl zu bewahren. Oder hatten deutsche So l daten die Einheimischen aus Furcht vor Übergriffen in das Gotteshaus gesperrt und dann den Panzer davor postiert? Er wusste es nicht. Unleugbar hatte jedenfalls eine panzerbr e chende Waffe das Kettenfahrzeug in Brand gesteckt, und nun drohte es samt Treibstoff und Munition zu explodieren.
Nicos Blick hetzte zu verschiedenen Punkten des Gebä u des. Das Portal wurde vom Heck des Panzers blockiert, dessen vordere Hälfte über den Stufen hing – es sah aus, als würde er schweben. Die Nebenausgänge waren zugenagelt. Ebenso die Fenster, die ohnehin viel zu hoch waren, um sie als Fluchtweg zu benutzen. Die Gedanken rasten so schnell durch seinen Kopf, dass er sie kaum fassen konnte. Er füh l te sich, als jage er mit einer Spitfire im Tiefflug durch die Stadt und versuchte die Straßennamen zu lesen. Immer wieder flackerte Lauras Gesicht vor seinem
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