Der Herr der Unruhe
ließ der Sturm nach. Schwere Schritte nähe r ten sich patschend auf dem regennassen Pflaster, aber Nico konnte den Blick nicht von der Uhr nehmen. Unvermittelt hörte er eine tiefe raue Stimme, die ihm nur allzu vertraut war.
»Jesus Maria, wenn das kein böses Omen ist!«
Nico fühlte sich, als hätte ihn ein Pfeil getroffen, dessen Gift sich rasch in seinen Adern verteilte, um ihn zu lähmen. Benommen wischte er sich mit der Hand das Wasser und einige nasse Strähnen aus dem Gesicht, um die vor ihm aufragende massige Gestalt besser mustern zu können. Es war niemand Geringerer als Massimiliano Manzini, der Podestà von Nettuno. Und bis zur Stunde der ungestrafte Mörder des Uhrmachers Emanuele dei Rossi.
Uberto suchte seinen Chef vermutlich noch im Komm u nalpalast, denn Manzini war allein herausgekommen. Der Gemeindevorsteher trug einen grauen Anzug, der sich rasch dunkel verfärbte. Sein im Verlauf von einem halben Du t zend Jahren fast kahl gewordenes Haupt glänzte im Regen. Er hatte Nico den Rücken zugewandt, um das Zifferblatt anzustarren, das wie ein Menetekel über ihnen hing. Eine Minute vor zwölf. Für einen abergläubischen Mann wie Manzini musste das mehr als ein Zufall sein.
»Der Fluch!«, stammelte er. »›Wenn ihr Zeiger ve r schwindet … ‹ Jesus Maria! Es ist vorbei …«
Diese Worte waren Teil jenes Fluches, den der Uhrm a chermeister im Sterben ausgesprochen hatte, wie Nico sich nur allzu gut entsann. Ausgerechnet von Manzini an sie erinnert zu werden war mehr, als er ertragen konnte. Seine Vernunft hatte über Jahre eine vermeintlich starke Kette geschmiedet, um blinden Zorn und das Verlangen nach blutiger Vergeltung für immer aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Soeben war diese Fessel entzweigerissen.
Während er noch auf den Rücken Manzinis starrte und sich in der Gewalt zu haben glaubte, stahl sich seine Rechte davon. Sie folgte einem dunklen Trieb, dem brennenden Durst nach Rache. Langsam senkte sie sich in die Hosent a sche, in der er sein Taschenmesser aufbewahrte. Eine Min u te vor zwölf. Was für ein Zeichen brauchte er denn noch?
Während der Vorsteher fassungslos den Kopf schüttelte und nicht einmal zu registrieren schien, wie ein Feuerweh r auto vor dem Palazzo hielt und mehrere Brandbekämpfer in das Gebäude stürmten, zog Nico das Messer heraus. Sein Herz klopfte heftig in der Brust. Er machte einen Schritt auf den Mörder seines Vaters zu. Das Blut in seinem Kopf schien zu kochen, aber der heftige Regen, der sogar die Flammen im Uhrenturm schon fast erstickt hatte, machte es ihm leichter, zu vollenden, was vollendet werden musste. Er klappte das Messer auf. Ein Blitz zuckte knallend über den Himmel und spiegelte sich in der Klinge. Niemand bemerkte es. Jetzt befand sich Nico direkt hinter dem Stadtvorsteher. Für einen Moment schloss er die Augen, um Kraft zu sammeln für die Vollstreckung des Urteils, das er schon als Knabe gegen den Mörder seines Vaters ausg e sprochen hatte. Er schöpfte tief Atem, bewegte den Arm ein wenig zurück, um seine ganze Kraft in den tödlichen Stoß zu legen, öffnete die Lider, entschied sich für eine Stelle zwischen den Schulterblättern und …
» Papà! Gelobt sei Jesus Christus, dir ist nichts g e schehn.«
Nico erstarrte. Es war Donna Laura gewesen, die da ihrer Erleichterung Luft verschafft hatte. Ehe er noch irgende t was tun konnte, schob sie sich zwischen ihn und Manzini. Sie trug nur ein dünnes blaues Kleid, das ihr nass am Kö r per klebte. Ihr Vater hatte sich beim ersten Klang ihrer Stimme vom Anblick des Zifferblattes losgerissen und empfing seine Tochter mit ausgestreckten Armen.
»Es ist alles gut, mein Mädchen«, sagte er sanft und tä t schelte Lauras Kopf.
Nico stand daneben wie ein begossener Pudel. Das Feuer der Rachgier, das ihm eben noch fast den Verstand wegg e brannt hatte, war durch Lauras Erscheinen in einem einz i gen Augenblick gelöscht worden. Verstohlen drehte er die gezückte Klinge in der Hand um und ließ sie in der Jacke n tasche verschwinden. Keinen Moment zu früh, denn Ma n zini blickte ihm nun über die Schulter seiner Tochter direkt in die Augen. Die Nähe des jungen Mannes schien ihm nicht zu behagen.
»Was starren Sie mich so an?«
Laura wand sich aus der Umarmung ihres Vaters, um den Angesprochenen zu betrachten. »Herr Michel?«
Trotz ihrer Überraschung hatte sie deutsch gesprochen. Ehe Nico etwas erwidern konnte, fragte Manzini: »Du kennst den Mann?«
Laura lachte sich
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