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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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herab.
    Für einen Augenblick vergaß Nico alles um sich herum. Die Leute auf dem Platz verschwanden und mit ihnen der Lärm. Die Piazza war leer. Es gab nur noch sie beide. Er fragte sich, was der Ausdruck auf ihrem Gesicht bedeutete? War es Erleichterung, Staunen oder … Erkennen ? Ehe er das Rätsel lösen konnte, riss ihn die jubelnde Masse u n barmherzig in die Wirklichkeit zurück.
     
    Zu den wenigen Dingen, die Massimiliano Manzini ganz außerordentlich schätzte, gehörte Bewunderung. Zur Me h rung derselben konnte er, obwohl es sonst nicht seine Art war, sogar sehr entgegenkommend sein. Ihm waren diejen i gen genauso lieb, die ihn wegen seiner Amtsführung bej u belten, wie auch die anderen, die ihm als einem Gauner par excellence Respekt zollten. Der Nimbus eines Unbezwin g baren haftete ihm an. Unter der Bevölkerung von Nettuno kursierten auch weniger schmeichelhafte Spitznamen. Il Stallone , »der Deckhengst«, war einer davon. Doch selbst das schien er eher als Kompliment zu werten.
    Weil der Stadtvorsteher den Populismus für sich zu einer Wissenschaft erhoben hatte, interessierte er sich brennend für das Phänomen des »Walzenbändigers«. Diesen zweiten Beinamen hatten die in solchen Dingen sehr erfinderischen Nettunier dem Deutschen nach der Rettung von Marianna Grilli als Zeichen ihrer Anerkennung verliehen. Innerhalb weniger Stunden kursierten in der Stadt die verschiedensten Versionen des dramatischen Geschehens auf der Piazza Umberto I. Während die einen behaupteten, Il Tedesco hä t te die Baumaschine mit bloßen Händen von dem Mädchen fortgeschoben, beharrten andere auf der Ansicht, er habe mit der Straßenwalze gesprochen und sie mit Argumenten, die in der allgemeinen Aufregung leider untergegangen seien, zur Kapitulation bewogen. Ein paar wenige schworen sogar, den Walzenbändiger beim Anheben des Fahrzeugs beobachtet zu haben.
    Unmittelbar nachdem Nico unter dem Applaus seiner neuen Bewunderer das taube Mädchen einer zum Zerfli e ßen dankbaren Mutter zurückgegeben hatte, war Signora Pallotta zu ihm durchgestoßen. Die Obstverkäuferin packte ihn links und rechts am Kopf, zog ihn zu sich herab und gab ihm einen dicken Kuss auf den Mund.
    »Was für ein Held Sie sind, Signor Michel!«, brüllte sie, und es klang immer noch wie Mikele . Erneut brandete Be i fall auf. Sie entriss einem der Schaulustigen eine Papiertüte, die sie wohl gerade erst seiner Obhut anvertraut hatte, und überreichte sie dem Walzenbändiger. »Ihre Äpfel, Don Ni k las.«
    Nico wunderte sich nicht allein über die respektvolle A n sprache, sondern auch über das Gewicht der Tüte. »Aber so viele habe ich gar nicht gekauft, Signora Pallotta!«
    »Was spielt das für eine Rolle, mein Herzchen? Sie dü r fen einen Monat lang jeden Tag zu mir kommen und sich noch so eine Tüte abholen. Kostenlos! «
    Das Publikum war außer sich vor Begeisterung, und Nico fragte sich, wie er jemals so viele Äpfel essen sollte.
    Nachdem der örtliche Einzelhandel den Walzenbändiger für sich also schon als Werbeträger entdeckt hatte, durfte der Stadtvorsteher nicht zurückstehen. Vielleicht färbte ja ein wenig vom Ruhm des beherzten Deutschen ab, wenn er ihn nur etwas näher an sich heranließ. Zumindest interpr e tierte Bruno Sacchi so den Besuch, der sich am Abend nach dem Ereignis durch lautes Klopfen ankündigte.
    Bruno öffnete die Tür. Draußen tobte ein Wintergewitter, wie Nico es lange nicht erlebt hatte. Er lag völlig erschöpft, eingewickelt in seiner Schlafdecke, auf den zusammeng e schobenen Matratzen, die ihm als Bett dienten, und spähte zum Eingang. Weil sein Freund den Blick versperrte, kon n te er nicht viel erkennen. Der Fremde redete auf Bruno ein, der sich zunächst störrisch benahm, sich dann aber doch zu Nico umwandte.
    »Ist für dich.«
    »Etwa wegen der Sache mit der Straßenwalze? Sag ihm, ich muss mich ausruhen.«
    »Hab ich schon.«
    »Signor Michel?« Der hoch gewachsene Besucher hatte seinen Kopf eingezogen, um ihn durch die Tür stecken zu können. Es war Uberto Dell’Uomo, der Chauffeur des Stadtvorstehers.
    Im Nu saß Nico kerzengrade im Bett. »Sie?«
    Weil der Sturm unablässig Regenschauer durch die Tür wehte, ließ Bruno auch den Rest des Besuchers herein. Der Fahrer, der Nico so unfreundlich in Nettuno begrüßt hatte, wirkte wie ausgewechselt. In seinen großen Händen drehte er eine tropfende Mütze. Seltsam steif, eine nasse Spur hi n ter sich herziehend, durchquerte er das Zimmer.

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