Der Herr der Unruhe
jemand bei Gelegenheit auch Ihrem Chef erzählen«, brummte Nico.
»Urteilen Sie nicht vorschnell über Don Massimiliano. Er mag manchmal rücksichtslos erscheinen, aber …« Ein Blitz und ein gewaltiger Donnerschlag schnitten dem Chauffeur das Wort ab. »Puh! Der Knall kam fast ohne Verzögerung. Es muss hier ganz in der Nähe eingeschlagen haben.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Signor Dell’Uomo, würde ich jetzt gerne zur Piazza Umberto I. fahren. Umso schneller haben wir wieder ein Dach über dem Kopf. Und einen Blitzableiter.«
»Natürlich. Hoffentlich springt der Wagen an.«
Nico tätschelte immer noch das weiche Leder des Beifa h rersitzes. »Keine Sorge, er wird.«
Der Motor des Lancia ließ sich nicht lange bitten. Ger a dezu eilfertig brachte er seine acht Zylinder auf Trab. Der Wagen setzte sich Bewegung und rollte langsam durch die Gassen der Altstadt.
»Übrigens«, sagte Uberto, ohne den Blick von der Win d schutzscheibe zu nehmen, auf der die Wischerblätter einen aussichtslosen Kampf gegen den sintflutartigen Regen foc h ten, »wir fahren nicht zu Don Massimilianos Priva t haus.«
Nico stockte der Atem. »Sondern?«
»In den Palazzo Comunale.«
»Um diese Zeit? Es muss doch inzwischen …«
»Sieben Minuten nach neun. Die Arbeitszeiten des Stad t vorstehers sind – wie sagt er immer? – ein wenig unko n ventionell.«
»Allerdings«, knurrte Nico.
»Nettunia hält ihn in Atem.«
»Wie bitte?«
»Sie müssen doch schon davon gehört haben. Im Jahr 1939 wird Geschichte geschrieben.«
»Ach, Sie meinen die Zusammenlegung von Nettuno mit Anzio zur Gemeinde Nettunia. Schon seltsam, dass mit Don Massimiliano das Oberhaupt der kleineren Stadt zum Bü r germeister eingesetzt werden soll.«
»Man merkt, dass Sie aus Deutschland kommen, Signor Michel. Mussolini hat die Bürgermeister abgeschafft. Don Massimiliano wird Podestà der Zwillingsstadt werden.«
»Mussolinis Vasallenkönig«, murmelte Nico.
»Wie bitte?«
»Nichts. Ich habe nur laut nachgedacht. Mir kommt …«
»Heilige Mutter Maria!«, stieß Uberto hervor.
Nico beugte sich über den Beifahrersitz und zog die A u gen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. Hinter den Wasserschlieren auf der Windschutzscheibe flackerten Lichter. »Ist das ein Feuer, Uberto?«
»Hol mich der … Ja, Signor Michel. Muss der mächtige Blitz von eben gewesen sein. Wie es aussieht, hat er in den Turm des Palazzo eingeschlagen.«
»Haben Sie denn hier keine Blitzableiter?«
»Natürlich, aber die sind in einem jämmerlichen Zustand – wie fast der ganze Kommunalpalast. Seit die Verlegung der Stadtverwaltung nach Anzio beschlossene Sache ist …«
»… hat man hier nichts mehr repariert. Ich kann’s mir denken. Vermutlich hat der Sturm den Schutz herunterg e rissen, um dem Blitz freie Bahn zu schaffen.« Denn zur bestimmten Zeit wird auch sein Fuß wanken. Nico sprach nur in Gedanken aus, was ihm jahrelang eine Quelle dun k ler Energie gewesen war – früher oder später würde sich Manzinis Schicksal erfüllen –, und er fragte sich, ob die Zeit in dieser Nacht ihr Maß vollendet hatte. Lag der Mö r der seines Vaters etwa schon irgendwo tot im Rathaus? Die Vorstellung allein reichte aus, um Nicos Blut in Wallung zu bringen. Das wäre eine gerechte Strafe! Ein himmlisches Feuer, das den Meuchler niederstreckte …
Rutschend kam der Wagen zum Stillstand. Noch vor dem Chauffeur stieß sein Fahrgast die Tür auf und sprang ins Freie. Auf dem Platz vor der Gemeindeverwaltung hatten sich bereits fünfzehn oder zwanzig Schaulustige eingefu n den, vermutlich Anwohner aus der Nachbarschaft. Aus ve r schiedenen Richtungen kamen weitere Menschen herbeig e laufen. Andere, die vermutlich zu Manzinis Stab gehörten, flohen noch aus dem Palazzo. Vom Stadtvorsteher selbst war nichts zu sehen. Nico versuchte sich ein Bild vom Ausmaß der Zerstörungen zu machen. Die Flammen lode r ten nur aus einem der Zifferblätter im Uhrenturm. In die drei Stockwerke darunter war das Feuer offensichtlich noch nicht vorgedrungen.
»Ich muss nach Don Massimiliano suchen«, sagte Uberto und lief zum Westeingang des Palazzos.
Nico sah ihm noch einen Moment nach, dann lockte ein metallisches Knirschen seinen Blick zum Uhrenturm z u rück. Die Zeiger auf dem noch intakten Zifferblatt bewe g ten sich. Als würde eine unsichtbare Hand sie drehen, stel l ten sie sich rasch vor, bis sie schließlich genau übereina n der stehen blieben: eine Minute vor zwölf.
Allmählich
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