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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sie brav ihre Stunden.«
    »Ankeruhr? Nie gehört.«
    »Eine wundervolle Jugendstiluhr am Hohen Markt in Wien. Eigentlich ist sie eine Brücke, die zwei Gebäude des Anker-Hofes verbindet. Zwölf Figuren, jede Stunde eine, paradieren über sie hinweg. Es war eine große Ehre, dieses berühmte Wahrzeichen der Stadt instand zu setzen.«
    »Dann sind Sie gelernter Uhrmacher?«
    Nico zögerte. Er fragte sich, wie viel Offenheit er wagen durfte. Im Lügen besaß er wenig Übung. Andererseits: Wenn er nichts riskierte, konnte er auch nichts gewinnen. »Ja«, antwortete er daher mit fester Stimme. »Ein sehr a n gesehener Meister hat mich ausgebildet. Ehrlich gesagt, war er es, der den Auftrag zur Reparatur der Ankeruhr bekam, aber die schwierigsten Arbeiten hat er mir übertragen.«
    Manzini musterte den so selbstbewusst auftretenden ju n gen Mann nachdenklich. Dabei massierte er sein Doppe l kinn – unangenehm lang. Hatte er im Verlauf von sechs Jahren etwa doch die Spur des einzigen Zeugen seiner Blu t tat bis nach Wien verfolgt? Schwante ihm womöglich, wer da vor ihm stand?
    Mit einem Mal nickte er. »Also gut. Nach allem, was man von Ihnen erzählt, scheinen Sie mir so eine Art Doctor M e chanicae zu sein, ein Heilkundiger für alles Technische. Wie sagten Sie, hieß Ihr Lehrmeister?«
    Willst mir wohl nachspionieren, was? »Ich habe seinen Namen nicht genannt, weil Sie ihn sowieso schon wieder vergessen hätten, Don Massimiliano. Er ist ja keiner der berühmten Wiener Komponisten, sondern nur ein Han d werker. Aber zu Ihrer Beruhigung: Mein Meister stammt aus der Schule des genialen Joseph Thaddäus Winnerl.«
    Der Stadtvorsteher sah Nico scharf an. »Der Name sagt mir nichts.«
    »Meine Rede! Winnerl hat den ersten brauchbaren Chr o nographen konstruiert, eine Uhr mit stoppbarem Sekunde n zeiger.«
    »So, so. Na, wir brauchen das Thema nicht weiter zu ve r tiefen, Signor Michel. Ich habe das Gefühl, Sie verstehen etwas von Ihrem Fach, und Sie sollen Ihre Chance beko m men. Wenn die Uhr da über uns bis zum Jahresende wieder die Stunden zählt, dann wird das nicht zu Ihrem Schaden sein. In der Zwischenzeit überlegen Sie sich schon einmal, wie ich meine Schuld bei Ihnen abtragen kann.«
    Nicos Blick wanderte wieder zu den verstellten Zeigern empor. Seine Antwort war nur ein Murmeln. »Keine Sorge, Don Massimiliano, da wird mir bestimmt etwas einfallen.«

5. KAPITEL
Der Leblosen Liebling
     
    Wien, 1932
     
    Selbst wenn er innerlich aufgewühlt war, behandelte er se i ne kleinen Patienten stets liebevoll. Er konnte sich die Ha a re raufen, schimpfen und brubbeln, aber sobald er zum O perationsbesteck griff, wurden seine Hände ruhig. Johan Mezei war ziemlich auf den Tag genau ein halbes Jahrhu n dert alt und konnte auf mehr als dreißig Berufsjahre z u rückblicken. Er hatte schon bei scheinbar hoffnungslosen Fällen eine Wiederbelebung geschafft. Im Moment war er sich jedoch nicht sicher, ob eine solche wirklich ratsam erschien. Er blickte durch eine Brille, in die zwei große Lupen eingelassen waren, was ihm irgendwie ein skurriles Aussehen verlieh. Sein Rücken war gebeugt, die Miene ernst.
    »Eine Unruh ohne Unruhe – armes kleines Ding!«, brummte er vor sich hin.
    »Was meintest du, Schatz?«, erkundigte sich Lea aus dem Hintergrund. Obwohl sie seit ihrer Vermählung mit ihm vor nun bald siebenundzwanzig Jahren in Wien lebte, war ihr immer noch der italienische Akzent anzuhören. Ihre rauch i ge Stimme vermischte sich auf eine liebenswerte Weise mit dem eher nasalen Wiener Dialekt.
    »Jemand hat ihm das Herz gebrochen«, knurrte Johan, ohne von den Organen seines Patienten aufzublicken, die in roten und silbrigen Reflexionen den Schein der Arbeitsla m pe zurückwarfen.
    »Warum bist du so gereizt, mein Lieber?« Leas Erfahrung hatte sie gelehrt, in den Phasen der Unzufriedenheit, die Johan bisweilen durchlief, besonders sanft zu sein. Sie saß – wohlweislich dem Blick ihres übellaunigen Mannes en t zogen – in einer rückwärtigen Ecke des Wohnzimmers, im Lichtkegel einer Stehlampe. In der Hand hielt sie Nadel, Garn und einen Stopfpilz mit einem darüber gestülpten Strickstrumpf, in dem ein beachtliches Loch klaffte. Es war immer gut, sich zu beschäftigen, wenn ihr Göttergatte sich Arbeit mit nach Hause nahm.
    Endlich hob er den Kopf und schob die Unterlage mit der kaputten Taschenuhr missmutig von sich. Ohne sich zu seiner Frau umzuwenden, antwortete er: »Ich will dir verr a ten, warum sich mir der

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