Der Herr der Unruhe
Ansicht nach tun, wenn der Junge hier vor uns steht? Ihn wieder nach Italien zurückschicken? In die Arme des Mannes, der seinen Vater ermordet hat? Das kann nicht dein Ernst sein, Johan Mezei.«
»Auch wenn es dir hart erscheint, Lea, du wirst mir am Ende Recht geben. Du kennst ja meinen Wahlspruch: Zeit ist Leben und Leben ist Zeit. Vergeuden wir nicht …« Der Uhrmacher verstummte, denn gerade hatte es an der Wo h nungstür geklingelt.
Der Junge blickte an der grauen Fassade des fünfgeschoss i gen Hauses empor und kam sich einsam, schutzlos und winzig klein vor. Wochenlang war er von einem kathol i schen Ordenshaus ins nächste geschoben worden, immer weiter nach Norden. In seinem vatikanischen Versteck hatte er noch die Hoffnung gehegt, dass der Staatsanwalt die z u ständigen Ermittlungsbehörden einschalten würde. Doch Nicos Zeugenaussage verhallte wie ein Echo im Wald, so als hätte sie nie existiert.
Danach begann seine Odyssee durch die Einsiedeleien der Alpenregion. In der einen wartete er auf weitere Papiere, in der anderen wurde an seiner Legende gefeilt, und die ganze Zeit über musste er die deutsche Sprache pauken. Sein Au f enthalt in einer Abtei in Meran diente überdies dem Zweck, sich verschiedenen Leuten zu zeigen, damit diese sich im Falle behördlicher Nachforschungen an ihn erinnern kon n ten. So wurde allmählich aus dem Juden Nico dei Rossi der arische Christ Niklas Michel. Seine aus Sizilien stammende Mutter hatte ihn in Südtirol aufgezogen; nach ihrem Tod musste er zum Vater nach Wien; und als dieser ebenfalls gestorben war, wurde er der Vormundschaft eines frommen Katholiken namens Siegfried Huber unterstellt, der dem Heiligen Stuhl noch etwas schuldete. Letzterer existierte tatsächlich. Am Ende war die Waise im Kloster zum heil i gen Hieronymus in Wien gestrandet; jedenfalls empfand sie es so. Der Benediktiner Lorenzo Di Marco hatte sich wohl etwas dabei gedacht.
Nico behagte weder die Vorstellung, mit einem christl i chen Namen ausstaffiert worden zu sein – versteckte A n spielungen auf seine hebräische Herkunft hin oder her –, noch hatte er sich recht für Walter Zamychevski begeistern können, den Guardian des Wiener Franziskanerklosters. Zugegeben, Zamychevski war freundlich, aber das lag wohl nur an dem Empfehlungsschreiben auf dem Briefpapier des Heiligen Stuhls. Er hatte den ihm aus Rom untergeschob e nen Knaben mit Argwohn beäugt und ihn nur allzu gern an den Leiter des Rosenkranz-Sühnekreuzzuges durchgereicht, der Gottwin Bertagnolli hieß und des Italienischen mächtig war.
Bertagnolli vermittelte sehr konsequent das Bild Fleisch gewordener Zurückhaltung. Er war ein kleiner Mönch A n fang dreißig mit schütterem Haar, der seine braune Kutte nur andeutungsweise ausfüllte. Von Mitbrüdern, die sich in den Vordergrund spielten, bekäme er Ausschlag, versiche r te er glaubhaft seinem Schützling. Gar die Stimme zu erh e ben hätte ihn vermutlich umgebracht. Da der Waisenjunge unter dem Patronat des Heiligen Stuhls stand, behandelte Bruder Gottwin diesen wie einst die levitischen Priester die Bundeslade, jenen heiligen Kasten im Herzen des Tempels: Respektiere ihn, doch berühre ihn ja nicht, sonst verzehrt dich das göttliche Feuer. Als der Mönch sich endlich vor dem Haus Nummer 30 in der Wiener Porzellangasse von dem ihm Anbefohlenen verabschieden konnte, wirkte er unendlich erleichtert.
Jetzt stand Nico allein im Schatten des großen Eckhauses, unter dem Arm einen Karton mit ein paar Kleiderspenden, und fühlte sich wie das bemitleidenswerteste Geschöpf auf Gottes weiter Erde. Links vom Eingang bewegte sich eine Gardine. Bestimmt wurde er beobachtet. Er glaubte die Blicke der hinter ihm vorbeigehenden Leute wie Nadelst i che im Nacken zu spüren. Hinzu kam das unablässige G e rumpel und Geknatter der Automobile. Wien war ein and e res Pflaster als Nettuno. An die zwei Millionen Menschen lebten hier. Jedenfalls hatte Bruder Gottwin das behauptet. Nico fasste sich ein Herz und stieß die Haustür auf.
Mit kleinen Schritten tappte er in das Gebäude hinein, das ihm als neues Zuhause zugeteilt worden war. Die Marmo r paneele an den Wänden und die Rundbögen unter der D e cke waren beeindruckend. Rechter Hand hing eine Tafel mit den Namen der Hausbewohner. Schnell fand er den einen, dem er sich ausliefern sollte: Johan Mezei. Davide Ticianis Schwager wohnte in einem Palast.
Beim Erklimmen der Treppen bemerkte der Junge schnell, dass das Maß der
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