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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Prächtigkeit im umgekehrten Verhältnis zur Zahl der Stockwerke abnahm. Hatte das En t ree im Erdgeschoss noch sehr feudal ausgesehen, waren im dritten Stock von dem Gepränge bestenfalls die hohen D e cken übrig geblieben. Auf dem Podest gab es vier Eingä n ge. Die Tür ganz links fiel Nico sofort ins Auge, weil an ihrem rechten Pfosten, nur wenig länger als sein Mittelfi n ger, eine goldene Mesusa befestigt war, das typische Merkmal jüdischer Wohnungen. Darin befand sich ein kle i nes Fenster, durch das man das hebräische Wort auf der Rückseite der Pergamentrolle lesen konnte: Schadáj, »Al l mächtiger«. An der Tür selbst hing ein hübsches Messin g schild, auf dem der Name Mezei stand.
    Der Junge blieb unschlüssig vor der Wohnung stehen. Aufgeregte Stimmen drangen dumpf heraus. Vielleicht ha t te Davide ihn an einen jähzornigen Wüterich überstellt. Dagegen sprach allerdings, dass auch Johan Mezei ein Uhrmachermeister war, und der Junge entsann sich einiger Erklärungen seines Vaters über die berufsbedingte Sanftheit der Zunftmeister. Unter dem Schild befand sich ein Klo p fer, der in Wirklichkeit eine Klingel war – Nico hatte dieses Täuschungsmanöver sofort durchschaut. Er zog an dem hufeisenförmigen Hebel. Es schellte.
    Die Stimmen in der Wohnung verstummten. Schritte n ä herten sich.
    Rasch berührte Nico mit den Fingerspitzen die Rolle n kapsel und murmelte das traditionelle Gebet. »Möge Gott mein Hinausgehen und mein Hineingehen behüten von nun und für immer.«
    Da öffnete sich schon die Tür. Aber nur einen Spaltbreit. Nico erblickte unter buschigen Brauen zwei dunkle Augen, die ihn misstrauisch musterten. Wellige, wie Stahlwolle anmutende Haare überdachten eine breite Stirn, die sich rasch in Falten legte. Sodann sträubte sich ihm unter einer großporigen Nase ein bürstenartiger Schnurrbart entgegen, und eine kaum weniger borstige Stimme fragte: »Ja?«
    So viel Deutsch verstand der Junge bereits. Er piepste se i nen auswendig gelernten Satz. »Mein Name ist Nic- … Niklas Michel, und …«
    »Was ist mit dir? Hast du Kreide verschluckt?«, unte r brach ihn der Wohnungsinhaber barsch.
    Nico hatte bestenfalls die ersten fünfzig Prozent des A n schnauzers verstanden. Er blickte aus großen Augen erst den Mann im Türspalt an, anschließend die Mesusa am Pfosten – Möge Gott mein Hineingehen behüten! – und zuletzt wieder den Grobian. Dann wurde die Tür aufgeri s sen, und eine kleine Frau tauchte unter dem Arm des Ma n nes hindurch, als wolle sie sich schützend zwischen den Rohling und das Kind werfen.
    »Du jagst dem armen Jungen ja Angst ein!«, tadelte sie den Mann, ohne dass Nico ihre Worte verstand.
    »Vielleicht ist er ja irgendein Schlemihl, der sich nur für den ausgibt, den wir erwarten«, verteidigte sich der so G e scholtene brummig.
    »Schmonzes, Johan!«
    »Sei vorsichtig, Lea!«
    Sie wandte sich dem Besucher zu. »Tu sei il figlio di E manuele dei Rossi, vero?«, fragte sie freundlich: Du bist der Sohn von Emanuele dei Rossi, habe ich Recht? Beim Klang ihrer Stimme musste Nico merkwürdigerweise an Wildl e der denken: Sie war rau und weich zugleich.
    Der Hausherr stöhnte ob der vermeintlichen Unvorsic h tigkeit seiner Frau. »Auf mich hört ja sowieso keiner«, brummte er und zog sich in die Tiefen der Wohnung z u rück.
    Nico war von den verwirrenden Wortwechseln der beiden einigermaßen irritiert. Der Anteil der verstandenen Satzfe t zen sank rapide. Brav, so wie er es auswendig gelernt hatte, wiederholte er auf Deutsch: »Mein Name ist Niklas Michel, und ich komme wegen der Lehrstelle.«
    Die Frau des Uhrmachers belohnte ihn dafür mit einem Lächeln, blieb jedoch bei ihrer beider Muttersprache. »Ich weiß eine ganze Menge von dir, Nico. Onkel Davide hat uns deine traurige Geschichte ausführlich in einem Brief beschrieben.« Sie senkte ihre Stimme. »Keine Angst, er hat ihn nicht der Post anvertraut, sondern einem guten Freund, der uns die Nachricht persönlich überbrachte. Außerdem kam gestern ein Fernschreiben, in dem uns deine heutige Ankunft mitgeteilt wurde. Dieser Benediktiner aus dem Vatikan hat ja ein großes Geheimnis aus der Route und dem Zeitplan deiner Flucht gemacht. Wie hieß er doch gleich?«
    »Wer? Der Mönch? Ich habe seinen Namen nicht gesagt. Und ich darf ihn auch nicht verraten.«
    Es entstand eine peinliche Pause, die Lea Mezei aber schnell zu überspielen wusste. Sie streckte dem Jungen ihre Hand entgegen. »Wie auch immer.

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