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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Magen verknotet. Heute ist der 29. Mai 1932.«
    »Du musst mir wirklich nicht sagen, welches Jahr wir h a ben, Schatz.«
    »Anscheinend hast du das Telegramm längst vergessen.«
    »Das von Davide meinst du?«
    »Bekommen wir etwa täglich Depeschen, dass du mich danach fragst? Natürlich spreche ich von der Nachricht deines Bruders: ›NEUER GESELLE TRIFFT EIN SON N TAG NEUNUNDZWANZIGSTER MAI – STOP – EM P FANGT IHN LIEBEVOLL – STOP – ER HAT VIEL G E LITTEN – STOP –‹« Johan schnaubte verächtlich. »Er hat viel gelitten! Als ob wir hier leben würden wie die Made im Speck! Tausende Metallarbeiter in der Stadt stehen auf der Straße. Unsere Kunden, Lea! Wie soll ich einen Bengel durchfüttern, wenn wir selbst nichts zu beißen haben?«
    Lea erhob sich nun doch aus ihrem Ohrensessel, legte ihre Handarbeit ab und lief zu Johan. Sie war eine kleine Frau und hatte trotz ihrer erst sechsundvierzig Lebensjahre b e reits grau meliertes Haar, das sie auf dem Kopf zu einem Knoten zusammenzubinden pflegte. Ihr unerschütterlicher Humor hatte rund um die dunklen Augen Laufspuren hi n terlassen, die einzigen Falten in ihrem ausdrucksvollen G e sicht. Vorstehende Wangenknochen und ein spitzes Kinn verliehen ihr eine Schönheit, der selbst die vorübertickende Zeit nichts anhaben konnte. Sie umarmte ihren Mann von hinten, legte ihr Kinn auf seine Schulter und schmiegte ihre Wange an die seine. »Jetzt übertreibst du aber, du alter Brummbär. Bei den Aufträgen von der Gemeinde hat es kaum Rückgänge gegeben. Außerdem gibt sich die Prom i nenz der Stadt beim Uhrmachermeister Mezei die Klinke in die Hand. Manchmal frage ich mich, ob du nur ihre Uhren oder auch ihre Seelen kurierst.«
    »Du brauchst gar nicht zu versuchen, mir Honig ums Maul zu schmieren«, murrte Johan.
    Lea küsste ihn auf die Wange. »Ich weiß, dass du ein g u tes Herz hast. Als uns Davide zum ersten Mal von dem Jungen schrieb, warst du genauso erschüttert wie ich. Er ist ein Waisenkind. Er hat erst vor drei Jahren seine schwin d süchtige Mutter begraben und dann mit ansehen müssen, wie sein Vater ermordet wurde. Er ist in Italien nicht sicher. Und …«
    »Und sein Vater war ein Freund deines Bruders. Deine i talienische Mischpoke bringt mich noch an den Bettelstab.«
    »Schmonzes, Johan! Was du da sagst, ist nichts als Schmonzes. Ihr drei – Davide, Emanuele dei Rossi und du –, ihr gehört alle derselben Zunft an, ihr seid die Kronjuw e len des Uhrmacherhandwerks, und ihr habt dem Gott Israels unverbrüchliche Treue geschworen. Hast du nicht höchs t selbst in der Synagoge neulich aus dem Sefer Tora das G e bot unseres Herrn gelesen? ›Am Ende von drei Jahren wirst du den ganzen Zehnten deines Ertrages herausbringen. Und der vaterlose Knabe, der innerhalb deiner Tore ist, soll kommen und essen und sich sättigen, damit der Ewige, dein Gott, dich segnet in jeder Tat deiner Hand, die du tun wirst.‹ War es nicht so, Schatz?«
    »So steht es im Buch Dewarim aber nicht. Du hast dir den Text zurechtgestutzt.«
    »Ich habe nur das Belanglose weggelassen. Du versü n digst dich, Johan Mezei, wenn du diesen Knaben seinem Schicksal überlässt.«
    Der Uhrmacher befreite sich unwirsch aus Leas Uma r mung, indem er sich vom Arbeitstisch hochstemmte und sich zu ihr umdrehte. Er riss sich die Vergrößerungsbrille vom Gesicht. »Wer sagt denn, dass die Sünde nicht genau das Gegenteil ist? Im letzten Jahr haben die Nationalsozi a listen fünfzehn Sitze bei den Gemeinderatswahlen gewo n nen, und vor gerade neun Tagen hat sich dieser feine, christlich-soziale Herr Doktor Engelbert Dollfuß die K ö nigskrone aufgesetzt.«
    »Der neue Bundeskanzler wird die NSDAP schon in die Schranken weisen.«
    »Mag sein. Vielleicht aber auch nicht. Du weißt, wie die Braunhemden uns Juden beschimpfen, und Dollfuß ist für mich weder christlich noch sozial. Ein Kunde, der es wissen muss, hat mir geflüstert, er wolle die Sozialdemokraten am liebsten verbieten lassen. Wir sind beides, Lea: Juden und Sozialdemokraten. Vielleicht haben die sprichwörtlichen sieben mageren Jahre für uns erst begonnen. Der arme Ju n ge ist genug gestraft. Ziehen wir ihn nicht auch noch in diesen Schlamassel hier hinein.«
    Allmählich verlor die sanfte Uhrmachersfrau ihre Engel s geduld. Sie verschränkte die Arme über der Brust, verengte ihre Obsidianaugen zu zwei schmalen Schießscharten, aus denen Blitze gleißten, und fragte mühsam beherrscht: »Was sollen wir denn deiner

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