Der Herr der Unruhe
verloren war.
Laura nahm einen energischen Atemzug. »Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Herr Michel.« Dann schloss sie die Tür.
Eine Minute vor Mitternacht. Die Menge machte einen Lärm, als ginge es darum, die Turmuhr durch den Schal l druck wachzurütteln. Nico saß hoch über den Menschen und behielt den Zeiger seines Taschenchronometers im A u ge. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken wieder zu jenem Abend vor drei Wochen ab, an dem er in kurzer Fo l ge Glückseligkeit und Seelenpein erlitten hatte.
In der schlaflosen Nacht danach war in ihm ein En t schluss gereift. Er würde um Laura kämpfen. Das bedeutete nicht die Aufgabe seines anderen Zieles. Der Gerechtigkeit musste Genüge getan, Manzini für seine Untaten zur Ve r antwortung gezogen werden. Aber dazu war kein kalter Stahl im Herzen des Unholds erforderlich. Es bedurfte l e diglich eines feinen Gleichgewichtssinns, denn Nico ahnte durchaus, auf was für einen gefährlichen Drahtseilakt er sich da eingelassen hatte.
Laura würde ihn zum Teufel jagen, wenn er ihren Vater offen als Mörder anprangerte. Deshalb musste er es so au s sehen lassen, als würde sich Don Massimiliano selbst verr a ten. Dazu mussten zunächst einmal hieb- und stichfeste Beweise für seine Untaten beschafft werden, etwas, das selbst die faschistische Gerichtsbarkeit nicht unter den Te p pich kehren konnte. Wenn sein diabolischer Charakter vor aller Welt Augen bloßgestellt war, dann musste er fallen, und selbst Laura würde sich nicht länger von der Liebe zu ihm blenden lassen. Es war eine gefährliche Kabale, wie Nico auch ohne die temperamentvollen Warnungen Brunos sehr wohl wusste. Sollte er im Kampf um Lauras Liebe und dem Durst nach Vergeltung die Balance verlieren, würde er sich unweigerlich das Genick brechen.
»… feierlich den Beginn eines neuen Zeitalters«, dröhnte über die Lautsprecher Don Massimilianos Stimme. Sie klang fast wie ein Befehl an den unsichtbaren Adressaten im Uhrenturm. Nico schrak aus seiner Versunkenheit auf und kontrollierte erneut seinen Chronometer. Zwölf Seku n den nach Mitternacht. Was machte es schon? Dann begann das Jahr 1939 eben etwas später.
»Jetzt lass mich nicht im Stich«, flüsterte er liebevoll, während unter ihm der Podestà verzweifelt ein rotes Band mit seiner Schere in feine Schnipsel schnitt. Das andere Ende des Stoffstreifens war um einen Hebel geknotet, den Nico mit einiger Verspätung umlegte. Gehorsam setzte sich die Uhr in Gang. Die Zeiger sprangen auf zwölf. Das G e läut verkündete den Wechsel zu einer vermeintlich besseren Zeit.
Damit hatte Nico seinen Teil der mit dem Stadtvorsteher getroffenen Abmachung erfüllt. Die Wiederinbetriebnahme der prominentesten Uhr der Stadt besaß Symbolcharakter. Massimiliano Manzini liebte solche Inszenierungen. Hu n derte von Menschen waren auf seine Einladung hin auf den Platz vor dem Palazzo Comunale geströmt; in Nettuno und Anzio hatte man seit jeher eine Schwäche für kostenlosen Wein.
Nach der erfolgreichen Reanimation des tot geglaubten Patienten verließ Nico seinen Posten im Uhrenturm und begab sich auf die Piazza hinab. Die Menschen lachten, sangen und sprachen dem behördlich verordneten Wein untertänig zu. Unzählige Hände klopften ihm anerkennend auf die Schulter. Manzinis Vollmondgesicht wirkte dagegen etwas zerknittert, als er, in den Fingern der Rechten eine qualmende Zigarre haltend, seinen Stadtuhrmacher em p fing.
»Sie haben mich ganz schön ins Schwitzen gebracht, mein Lieber! Ich dachte schon, ich würde mich vor der ganzen Stadt blamieren.«
»Das Ingangsetzen eines großen Räderwerks ist immer eine heikle Angelegenheit, Don Massimiliano.«
Der Vorsteher war zu gut gelaunt, um auf die leisen Zw i schentöne der Antwort zu achten. Er lachte schallend und legte seinem Doctor Mechanicae den Arm auf die Schulter. Inzwischen konnte Nico mit der plumpen Vertraulichkeit seines Gegenspielers schon besser umgehen. »Geschenkt!«, posaunte Manzini. »Ich sagte Ihnen vor gut drei Wochen, wenn die Uhr bis zum Jahresende wieder die Stunden zählt, dann soll das nicht zu Ihrem Schaden sein. Sie haben Ihre Aufgabe bravourös gemeistert – über die fehlenden Ziffe r blätter wollen wir mal hinwegsehen. Jetzt ist es an mir, mein Versprechen einzulösen.«
Stürz dich ins Meer, du Ungeheuer, dann sind wir quitt. »Da bin ich aber gespannt, Don Massimiliano.«
»Ich möchte Ihnen eine Stelle in der Stadtverwaltung a n bieten.«
»Aber …«
»Sie
Weitere Kostenlose Bücher