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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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einmal in die Hand nehmen?«, fragte Nico scheu.
    Meister Johan sah ihn verwundert an, deutete aber dann doch einladend auf die Uhr. »Meinetwegen. Aber lass sie nicht fallen.«
    Nico nahm die Taschenuhr behutsam am Gelenk zw i schen Deckel und Gehäuse. Er summte eine leise Melodie, während er sie sich auf den linken Handteller legte und sie vor das Gesicht hob. Ein Blick genügte ihm, um seine Vermutung zu bestätigen. »Die Spiralleder ist gebrochen.«
    »Was eigentlich leicht zu beheben ist«, gab ihm der Mei s ter Recht.
    Der Junge klappte den Deckel zu und umschloss die Uhr, indem er die rechte Handfläche auf die linke legte. Seine Augen wurden glasig. Ein Zittern durchlief den zarten Kn a benkörper. »Aber … Sie sind sich nicht sicher«, flüsterte er.
    Johan Mezei schluckte. »Wie kommst du darauf?«
    »Weil der vorherige Besitzer diese Uhr fallen gelassen hat –« Nico wandte dem Meister das Gesicht zu –, »nachdem sein Herz aufgehört hatte zu schlagen.«
    »Das ist ja …!« Der Uhrmacher riss den Mund auf, blic k te wieder zur Frau, dann erneut zum Jungen. »Wie kannst du davon wissen?«
    Nico deutete mit dem Kopf zu der in seinen Händen ve r borgenen Uhr. »Sie hat es mir erzählt.«
    Johan Mezeis Mund wollte sich gar nicht mehr schließen. Ein Anflug von Panik funkelte in seinen braunen Augen. Vermutlich hatte er so etwas Haarsträubendes in seinem ganzen Leben noch nicht gehört. Mit einem Mal trat jedoch ein neuer Ausdruck auf sein Gesicht, einer wie man ihn gelegentlich bei Menschen sieht, die am Ende einer langen Pilgerfahrt schließlich ihr Ziel erreichen. Seine Miene hatte sich merklich entspannt, als er leise fragte: »Und was b e richtet dir die Uhr noch so alles?«
    »Sie haben sie lange in der Hand gehalten, Meister. So ähnlich wie ich es gerade tue. Bestimmt haben Sie überlegt, ob sie verflucht ist und ob Sie sich trauen sollen, sie wieder in Gang zu setzen. Dadurch könnte sie zu Ihrer Lebensuhr werden.«
    »Meiner … Lebensuhr !«, wiederholte Johan wispernd. Seine geweiteten Augen glitzerten ängstlich im Lampe n schein.
    Der Junge nickte. »Einer Uhr, an die Ihr Leben geknüpft wäre. Wenn sie stehen bleibt, dann ist es aus mit Ihnen.«
    Bei dem Wort »aus« zuckte der Meister zusammen. »Wenn die Unruh bricht, erlischt dein Lebenslicht«, wi e derholte er langsam auf Deutsch, was ihm schon zuvor he r ausgerutscht war.
    »Aber davor brauchen Sie sich nicht zu fürchten, Meister Johan.«
    »Und wieso bist du dir da so sicher?«
    »Weil diese Uhr hier Ihnen nichts tut.«
    »Besser man geht kein Risiko ein.«
    »Aber sie ist völlig ungefährlich. Sehen Sie selbst!« Nico hob die ihm als Deckel dienende Hand an, drehte die Uhr in der anderen um, klappte den vorderen Deckel auf und streckte dem Meister das Zifferblatt entgegen.
    Johan Mezei sprang vom Stuhl auf und starrte fassungslos die Uhr an, als sei sie ein magischer Gegenstand, der ihn in irgendetwas absolut Scheußliches verwandeln konnte. Se i ne Ohren waren noch gut. Er hatte das gleichmäßige Ticken sofort vernommen, und selbst aus der Distanz sah er noch den munter ausschreitenden Sekundenzeiger.
    »Sie geht wieder«, sagte Nico, was ohnehin offensichtlich war.
    »Aber die Feder ist gebrochen! Das kann gar nicht sein.«
    Nico kicherte, als hätten ihn nie irgendwelche Sorgen g e plagt. »Sie ist ja auch immer noch kaputt. Die Uhr hat mir nur den kleinen Gefallen getan, um Ihnen den Aberglauben auszutreiben, Meister Johan.«
    » Ich soll abergläubisch sein?«
    Aus dem Ohrensessel ertönte ein Lachen. »Lass uns das Thema besser nicht vertiefen, Schatz.«
    Nico hielt dem immer noch Zweifelnden das silberne Sorgenkind entgegen. »Schauen Sie, Meister, jetzt steht sie wieder, und ich lebe immer noch. Sie und Ihre liebe Frau übrigens auch.«
    Endlich wagte Johan Mezei die Uhr in die Hand zu ne h men. Ehrfürchtig drehte er sie in den Fingern hin und her, öffnete schließlich den hinteren Deckel, setzte sich seine Lupenbrille auf, ließ seinen Blick tief in das nun erneut stille Werk eindringen und hauchte schließlich: »Die Spira l feder ist tatsächlich noch gebrochen!«
    »Sag ich doch.«
    Meister Johan schien es nicht zu wagen, sein Gegenüber offen anzusehen. Auch seine Stimme blieb leise wie an einem geweihten Ort, als er bemerkte: »Ich habe gehört, dass es solche Menschen geben soll. Wohl nicht nur wir Uhrmacher nennen sie ›der Leblosen Lieblinge‹, weil sie mit Maschinen und Apparaten sprechen können wie

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