Der Herr der Unruhe
sind Ausländer und minderjährig – das hatten wir schon mal. Ihre Mutter ist Italienerin gewesen, wie Sie mir am Abend unseres gemeinsamen Abendessens erzählten, und Sie sind in Meran geboren. Nach dem Großen Krieg ist Südtirol sowieso Italien zugeschlagen worden, da wollen wir nicht um ein paar Wochen streiten. Sie sind de facto Einheimischer, und wenn Sie wollen, sorge ich dafür, dass Sie ‘s auch bald de jure sind. Als Antragsteller für die Staatsbürgerschaft darf die Gemeinde Sie kommissarisch beschäftigen. Was halten Sie davon?«
»Ich …« Nicos Kinnladen sank herab. Die Antwort blieb ihm im Halse stecken.
»De jure bedeutet ›von Rechts wegen‹ und kommissarisch ›vorübergehend‹«, erläuterte der Vorsteher, weil er die Sprachlosigkeit seines Mitarbeiters in spe für eine Auswi r kung mangelnden Verständnisses hielt.
»Was für eine Arbeit wollen Sie mir denn geben?«
»Das klingt aber nicht gerade nach einem Hurra. Ich dac h te mir, da Sie so geschickt mit jeder Art von Apparaten umgehen können, wäre ein Posten als Gemeindemechaniker genau das Richtige für Sie. Ihnen würde die Wartung der Turmuhr und anderer Maschinen des neuen Nettunia obli e gen. Was halten Sie davon, Signor Michel?«
Mindestens ein Dutzend Gedanken schossen zugleich durch Nicos Kopf. Mit dieser Arbeit wäre er im weitesten Sinne dem Podestà unterstellt. Zweifellos könnte er Manz i ni öfter sehen als bisher, mit ihm reden, ihn unauffällig aushorchen, vielleicht sogar in Unterlagen Einsicht ne h men, die ihm die erhofften Beweise lieferten. Mindestens ebenso verlockend war für ihn die Aussicht, im Dunstkreis des Podestà hin und wieder Laura zu begegnen. Er könnte mit ihr ganz unverfänglich das ein oder andere Wort wec h seln und so das Porzellan wieder kitten, das er vor drei W o chen zerschlagen hatte. Nico atmete tief durch.
»Ihr Vorschlag ist sehr großzügig, Don Massimiliano, und ich muss zugeben, es gefällt mir in Nettuno fast schon so, als hätte ich immer hier gelebt.«
»Ist das ein Ja?«
Er nickte. »Ich nehme Ihr Angebot an.«
Mit dem Wort »Wiedervereinigung« vermochten die mei s ten Bewohner von Anzio und Nettuno ebenso wenig anz u fangen wie die Österreicher knapp ein Jahr zuvor bei der »Heimholung« ins Deutsche Reich. Nun kann sich G e schichte zwar wiederholen, aber nicht wehren. Die dem Faschismus anhaftende Schwäche für pathetische Symbole verlangte förmlich nach einer Reinkarnation des myth i schen Neptunia.
Historiker wollten herausgefunden haben, dass sich die Bevölkerung des römischen Antium im neunten Jahrhu n dert nach Christus von den Sarazenen arg genug bedrängt gefühlt hatte, um ihren Hafen aufzugeben und sich auf das Kap von Anzio zurückzuziehen. Dort stand einst der dem Meeresgott Neptun gewidmete Tempel, und hier wuchs nun stetig die mittelalterliche Siedlung Nettuno, in der Nico dei Rossi mehr als tausend Jahre später das Licht der Welt e r blickte. Nachdem die Gefahr vom Meer gebannt war, bild e ten die zwei Siedlungsflecken – weiterhin unter dem N a men Nettuno – bis zum Jahr 1827 wieder eine Einheit. Dreißig Jahre lang blieb Anzio nur »der Hafen«, bis es auf Anordnung von Papst Pius IX. in den Stand einer Gemei n de erhoben wurde. Das Regime unter dem Duce beabsic h tigte am 17 November 1939 also gewissermaßen nur mit der künstlichen Trennung der beiden Gemeinden Schluss zu machen. Und Massimiliano Manzini zum Podestà zu e r nennen.
Von oben verordnete Wiedervereinigungen wirken nach Abklingen der ersten Euphorie bisweilen ernüchternd auf das Volksgemüt, und was Massimiliano Manzini für einen gescheiten Einfall hielt – mit den Feierlichkeiten zum Ja h reswechsel der verwaltungstechnischen Zusammenlassung der zwei Gemeinden vorzugreifen –, entpuppte sich bald als ein Schuss, der nach hinten losging. Anstatt sich an ihr ne t tunianisches Wesen zu gewöhnen, gruben sich die Leute in ihre allen Gewohnheiten ein, als müssten sie im Angesicht einer übermächtigen Bedrohung die Stellung halten. Sie wechselten weiterhin von Anzio nach Nettuno, wenn sie die Stadtteilgrenzen von Westen nach Osten überquerten, und umgekehrt. Die Menschen waren ja auch zu verschieden, im größeren Anzio eher weltoffen und modern, im bescha u lichen Nettuno bodenständig und den bäuerlichen Traditi o nen verhaftet.
Sogar das Stadtoberhaupt schien sich schwer zu tun mit dem »gleitenden« Umzug in den Nuovo Palazzo Comunale, dem deutlich geräumigeren
Weitere Kostenlose Bücher