Der Herr der Unruhe
am liebsten die Zunge abgebissen. » Nein! So habe ich das nicht gemeint, Donna Laura. Ihr Lob macht mich sehr stolz. Ich … fühle mich dadurch mehr belohnt, als …« Er schüttelte den Kopf und senkte verlegen den Blick.
Sie sah ihn schräg von unten an. Ihr rosenroter Mund zuckte amüsiert, doch das Taktgefühl schien ihre Belust i gung zu zügeln. »Mehr als durch die klebrige Aufmer k samkeit meiner Stiefmutter? Ist es das, was Sie sagen wol l ten?«
»Äh, na ja, ich …«
Jetzt lachte sie doch, und es klang in Nicos Ohren schöner als alles, was er seit langem gehört hatte. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.
Eine heiße Welle schwappte durch ihn hindurch und riss ihn fast von den Füßen. Zum Glück hatte Laura das Licht im Flur ausgelassen, so konnte sie nicht sehen, wie er rot anlief. Es war nur eine flüchtige Berührung gewesen, und längst hatte sie zwischen ihnen wieder den gebotenen A b stand hergestellt, aber trotzdem schwindelte ihn immer noch.
»Ich glaube, das hatte ich noch nicht gesagt«, komme n tierte sie ihre Aktion mit einem kecken Augenaufschlag. »Nicht dass Sie mich falsch verstehen, Herr Michel, es ist als Dankeschön für die Rettung meiner Schwester g e dacht.«
Nico war zu perplex, um den ganzen Sinn ihrer Worte zu verstehen. Der Duft von Jasmin benebelte ihm die Sinne, und in seinem Kopf drehte sich ein Kettenkarussell, das einen mordsmäßigen Lärm machte. Wie durch einen dicken Vorhang drangen Lauras Worte in sein Bewusstsein vor.
»… Genovefa betrifft, brauchen Sie nichts zu sagen, Herr Michel. Sie kann manchmal unerträglich sein. Seit sie be g riffen hat, dass sie im Herzen meines Vaters nie und ni m mer die Stelle meiner Mutter einnehmen kann, ist sie offen gestanden eine einzige Plage.«
Laura tat so, als wäre eben nichts geschehen. Nico hing e gen musste das Karussell in seinem Kopf erst mit aller G e walt zum Stillstand bringen, bevor er wenigstens den A n schein einer durchdachten Antwort erwecken konnte. »Vie l leicht sehnt sie sich nur nach einem Menschen, der sie liebt. Man erzählt sich von Ihrem Vater …« Diesmal biss er sich tatsächlich auf die Zunge. Er hätte doch noch etwas länger warten sollen.
Lauras Augen verengten sich. »Was sagen die Leute?«
»Nichts.«
»Dass mein Vater seinen Samen reichlich unter den Schönen der Stadt verteilt?«
»Ehrlich gesagt … ja.«
Sie lachte abermals. »Das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein. Ganz Nettuno weiß davon. Meinen Sie, ich habe keine Ahnung, wem Sie am Freitag das Leben gerettet haben, Herr Michel? Wie gesagt, Marianna ist meine Schwester. Meine Halbschwester, um genau zu sein. Ich besuche sie sogar ab und zu, ebenso wie meine anderen Halbgeschwi s ter. Heimlich natürlich. Mein Vater sähe es nicht gerne, wenn ich unser Haus mit den Früchten seiner großzügigen Saat füllen würde.«
»Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie Sie so locker da r über reden können. Immerhin hat Ihr Herr Vater doch wohl eine ganze Reihe von Frauen mit ihren Kindern sitzen la s sen.«
Donna Lauras Antwort kam postwendend, und sie klang kühl. »Sie haben Recht, Herr Michel: Sie verstehen gar nichts. Zugegeben, was mein Vater da tut, gefällt mir nicht. Aber er sorgt für jedes seiner Kinder, und er liebt sie.«
Nico spürte, wie Laura sich innerlich von ihm entlernte, und es tat ihm weh. Aber sein Gerechtigkeitssinn begehrte trotzdem auf. »Einen Vater zu haben bedeutet mehr als r e gelmäßige Almosen.«
»Don Massimilianos Zuwendungen sind keine mildtät i gen Gaben. Er begleitet die Entwicklung jedes seiner Ki n der mit Interesse.«
»Das klingt für mich wie auswendig gelernt und aufg e sagt, Donna Laura. Sie reden sich Ihren Vater doch nur schön. Wenn Sie wüssten, was für ein Mensch er ist …« Nico schloss rasch den Mund.
Wieder wurden Lauras Augen schmal wie Schlitze. Mit einem Mal hatte sie ihre Deutschkenntnisse vergessen und fragte mit drohendem Unterton: »Was wollten Sie sagen, Signor Michel?«
»Nichts. Aber glauben Sie mir, ich weiß, was es bedeutet, ohne Vater aufzuwachsen.«
Ihre Stimme wurde nur geringfügig weicher. »Sie haben mein Mitleid, Signor Michel. Trotzdem gefällt es mir nicht, wie Sie das sagen, beinahe so, als treffe mich irgendeine Schuld an Ihrem Schicksal.«
Nico sah sie nur aus traurigen Augen an. Er wusste, dass der himmlische Augenblick, den ihr Kuss heraufbeschw o ren hatte, unrettbar
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