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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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andere Leute mit ihresgleichen. Ehrlich gesagt, habe ich nie an solche Ammenmärchen geglaubt. Bis jetzt.«
    Nico zuckte nur die Achseln.
    Endlich hob der Uhrmachermeister den Blick und muste r te den Jungen lange durch die Vergrößerungsgläser. Schließlich fragte er: »Willst du immer noch bei mir in die Lehre gehen?«
      
      
      
6. KAPITEL
    Der Hüter der Lebensuhr
     
    Nettuno, 1938
     
    Das Uhrwerk im Turm des Kommunalpalastes war in e i nem beklagenswerten Zustand gewesen. Jeder gewöhnliche Uhrmacher hätte vermutlich auf einen Neubau bestanden, nicht jedoch der merkwürdige Fremde aus Wien, dem Ma s similiano Manzini die Restaurierung anvertraut hatte. Die Entscheidung war in Nettuno Tagesgespräch. Tagelang.
    Nico hatte nie Zweifel daran gehegt, dass er dem g e schundenen Uhrwerk wieder Leben einhauchen konnte. Es war ihm auf Anhieb zugetan. Abgesehen vom Austausch der zerstörten Zifferblätter, die eine Firma aus Rom erst herstellen musste, hielt er den eng gesteckten Zeitrahmen ein. Unter seinen Händen ließen sich die vielen Metallteile, die das Feuer bisweilen auf bizarre Weise verbogen hatte, willig formen. Einige waren nur noch Klumpen und mus s ten erneuert werden, aber auch das bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Meister Johan war ihm ein guter Lehrer gewesen.
    Mit einer Ausnahme hatte Nico während der hoch über dem Dach des Verwaltungsbaus sowie in Werkstätten z u gebrachten Wochen das Stadtoberhaupt nur aus der Ferne gesehen. Dieser besondere Anlass war ein opulentes A bendessen, das Manzini im handverlesenen Kreis einiger Lokalhonoratioren zu Ehren des Walzenbändigers in se i nem Anwesen gab. Nico hatte gehofft, bei dieser Gelege n heit auch die Meisteruhr seines Vaters wiederzusehen, die in Nettuno für so viel Gesprächsstoff sorgte, aber dieser Wunsch blieb unerfüllt. Dafür lernte er Donna Genovefa kennen, die aus Mailand stammende Frau des Stadtvorst e hers, die man in der Öffentlichkeit last nie zu Gesicht b e kam.
    Allein der Anblick ihrer kühlen Schönheit konnte bei e i nem Mann in etwa dieselbe Wirkung erzielen wie ein Sturz in einen Gletschersee. Anlässlich des Banketts trug sie ein enges, langes, weit ausgeschnittenes, blutrotes Kleid, das ihre makellose weiße Haut und das pechschwarze Haar auf durchaus atemberaubende Weise betonte. Man hätte gla u ben können, sie sei Lauras ältere Schwester, so jung sah sie aus. Auf Nico wirkte sie dennoch künstlich wie eine Se i denblume ohne Duft oder ein gläserner Brillant, dem das Feuer fehlte. Nach allem, was man sich über Donna Gen o vefa erzählte, war sie für ihren Gemahl tatsächlich nur noch ein Schmuckstück. Es hieß, sie sei nach der Fehlgeburt vor sechs Jahren nicht mehr schwanger geworden. Don Mass i milianos Leidenschaft habe sich daher wieder auf die B e stäubung anderer Blumen in Nettunos Garten verlegt. G e novefas Interesse gehörte, zumindest an jenem bewussten Abend, ganz allein dem deutschen Helden. Nico fühlte sich von ihr regelrecht belagert, was es ihm einigermaßen e r schwerte, in Lauras ungefälschtem Liebreiz zu schwelgen.
    Als dann sein Gastgeber auch noch einen Tobsuchtsanfall bekam, nachdem er versehentlich einen Streuer umgewo r fen und Salz verschüttet hatte, wurde die Situation für Nico unerträglich. Sein Seelenkompass rotierte. Da speiste er nun im Haus dieses abergläubischen Cholerikers, der seinen Vater ermordet hatte, musste sich gegen eine sprachbegabte Venusfliegenfalle zur Wehr setzen und durfte nicht einmal das Mädchen, nach dem sein Herz verlangte, in eine Pla u derei verwickeln. Er kam sich vor wie im Märchen vom Dornröschen: Der Part der bösen Stiefmutter war mit Do n na Genovefa besetzt, die Laura mit Blicken zu vergiften suchte. Doch dann – er hatte sich nach dem Cognac vom Hausherrn mit dem Hinweis auf seine Kopfschmerzen früh verabschiedet – geschah etwas Unerwartetes.
    »Ich bringe Signor Michel zur Tür«, rief Laura, bevor sich ihre Stiefmutter ins Spiel bringen konnte. Am Ausgang waren sie mit einem Mal ganz allein. Sie reichte ihm l ä chelnd die Hand. Nico ergriff sie und hätte sie am liebsten nie wieder losgelassen.
    »Habe ich Ihnen schon gesagt, wie mutig ich das finde, was Sie am vergangenen Freitag für die kleine Marianna getan haben, Herr Michel?«, fragte sie auf Deutsch.
    »Ja, das haben Sie, Donna Laura.«
    Enttäuschung warf einen Schatten auf Ihr liebliches G e sicht. »Ach ja? Na, ich möchte Sie keinesfalls langweilen.«
    Nico hätte sich

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