Der Herr der Unruhe
jammerte der verzweifelte Beamte, sie habe schon gegen Napoleon gekämpft. Aber letzten Son n tag sei sie ihm bei einem bis dahin vergnüglichen Aufen t halt im Prater in eine Maß Bier gefallen. Die Unruh des mehr als einhundertfünfzig Jahre alten Erbstücks lag im Delirium.
Nico stellte Heilung in Aussicht und brachte wie beiläufig das traurige Schicksal seines Meisters zur Sprache – die Kunst des Aushorchens wohlgesinnter Kunden hatte ihm Johan beigebracht Herr Mezei sei unschuldig interniert worden, klagte Nico; außer der Lektüre der Arbeiter-Zeitung und der Teilnahme am jährlichen Maimarsch habe er sich nichts zuschulden kommen lassen.
Wenige Tage später flatterte ein amtliches Schreiben ins Haus, dessen schönster Satz lautete: »Vorbehaltlich der abschließenden Prüfung wird dem Antrag auf vorzeitige Haftentlassung des oben Bezeichneten stattgegeben.«
Am Freitag, dem 27. Juli 1934, sollte Johan wieder zu Hause sein. Aber es kam anders. Zwei Tage vor seiner Fre i lassung versuchten Nationalsozialisten die Regierung Dol l fuß zu stürzen. Bei dem Putschversuch töteten sie den Bu n deskanzler.
Die Denunziantin vom Hochparterre jaulte im Hausflur vor Empörung und machte pauschal alle »Juden, Bolsch e wiken und das übrige rote Gesocks« verantwortlich. So mussten wohl auch einige andere gedacht haben, denn »die Prüfung auf vorzeitige Haftentlassung von Herrn Johan Mezei wurde abschlägig beschieden«. Lea drohte daran zu zerbrechen.
Mit viel Liebe richtete Nico sie wieder auf. Gemeinsam kämpften sie weiter um Johans Freilassung. Mit der Ermo r dung des Bundeskanzlers endete nicht dessen Vision von einem »sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage und mit starker autoritärer Fü h rung«. Was Dollfuß am 11. September 1933 auf einem Trabrennplatz ausgerufen hatte, schrieb sich kaum ein Jahr später sein Amtsnachfolger auf die Fahne. Der neue Regi e rungschef hieß Kurt Schuschnigg, und er pflegte mit Hi n gabe das Andenken an den alten.
Im Zuge dieser Erhaltungsmaßnahmen musste die Freila s sung der in den Anhaltelagern Inhaftierten zunächst hinter wichtigeren Entscheidungen zurücktreten. Schon im Monat nach dem gescheiterten Putsch wurde ein Erlass vera b schiedet, demzufolge in allen Orten Österreichs ein Platz oder eine Straße nach Doktor Dollfuß benannt zu werden habe. Während die Zahl der arbeitslosen Metaller auf fün f zig Prozent kletterte, sorgte sich der Wiener Behördenapp a rat um die Reduzierung eines vorgeblich größeren Übels. Die Sozialisten hatten in der ganzen Stadt Hauswände mit ihrem Symbol, den drei nach oben weisenden Pfeilen, ve r unziert. Man versäumte keine Anstrengung, um sich des Makels zu entledigen. Sogar einige Sozialdemokraten bete i ligten sich – unter polizeilicher Aufsicht – an der Rein i gungsaktion.
Der Wille zur Veränderung war unverkennbar, und er wurde zu einer Welle der Tatkraft. Von dieser getragen, schwappte die Bundesregierung ins neue Jahr. Am 26. J a nuar 1935 trat das Kabinett vollzählig an, um eine neue Tradition aus der Taufe zu heben: den Wiener Opernball.
Nicos Begeisterung für das muntere Treiben der Mächt i gen hielt sich in Grenzen. In seinem Kopf führte er ein Konto, das im Haben vornehmlich Blendwerk und brutale Maßnahmen zum Zwecke des Machterhalts auswies, im Soll dagegen die unerfüllten Forderungen nach Freiheit, Frieden und Sicherheit für Menschen wie die Mezeis. O b wohl er ihnen sein zweites Leben und so etwas wie ein ne u es Zuhause verdankte, hatte er sie enttäuscht. Ihm war nie ein Vorwurf zu Ohren gekommen, aber Nico fühlte sich trotzdem schuldig.
Die Ausbildung konnte er sowieso nicht mehr fortführen, also konzentrierte er sich ganz auf das Uhrengeschäft und die Werkstatt. Dank seines außergewöhnlichen Gespürs für die Wehwehchen seiner kleinen Patienten gewann er sogar neue Kunden hinzu. Außerdem unterstützte er Lea weite r hin in ihrem Kampf um die Freilassung Johans. Bis endlich die erlösende Botschaft kam.
Die Bundesregierung hatte eine »Weihnachtsamnestie« beschlossen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde für die Jüdin Lea Mezei das Fest der Christenheit zu einem Fre u dentag. Während andere sich an Heiligabend über die B e scherung freuten, konnte sie endlich wieder ihren Mann in die Arme schließen.
Nico fühlte sich von einer drückenden Last befreit. Er würde zwar nie wieder gutmachen können, was Johan wä h rend der Monate im
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