Der Herr der Unruhe
Anhaltelager erlitten hatte, aber zumi n dest war er seiner Verantwortung nicht ausgewichen. Wä h rend andere in seinem Alter noch die Schulbank drückten, hatte er gegen die Windmühlen des Behördenapparats g e kämpft und zwei liebe Menschen vor Hunger und Not b e wahrt. Jetzt konnte er nach Italien zurückkehren und jenen anderen Teil seiner Schuld abtragen, der so viel schwerer wog.
Meister Johan war dünnhäutig geworden. Die Zeit im L a ger hatte ihn gezeichnet. Seine Augen lagen tiefer, und das Haar, ehemals wie Stahlwolle, war nun weißgrau. Obwohl noch immer ungebeugt, bewegte er sich so bedächtig, als hätte er Knochen aus Glas. Jede Belastung, ob körperlich oder seelisch, strengte ihn an. Die Umtriebigkeit seines Schützlings setzte ihm besonders zu.
»Warum, Niklas?«, fragte er müde, nachdem Nico ihm am Abend des 1. Januar 1936 von seinem Vorhaben erzählt hatte.
»Nettuno ist meine Heimat.«
»Unsinn. Die Heimat eines Menschen ist dort, wo er g e liebt wird. Deine Eltern sind beide tot, und abgesehen von einem alten Onkel deiner Mutter in London hast du keine Verwandten mehr. Für Lea und mich bist du wie ein Sohn. Bedeutet dir das gar nichts?«
»Doch«, druckste Nico, »aber …«
»Aber was?«
»Im Geschäftsbuch meines Vaters gibt es noch einen u n erledigten Posten, um den ich mich kümmern muss.«
Johan und Lea wechselten über den Esstisch hinweg einen langen Blick. Die Standuhr im Wohnzimmer zählte derweil maßvoll die Zeit. Der Meister seufzte traurig.
»Habe ich dir schon von Ahasver erzählt, mein Junge?«
Nico schob die Unterlippe vor und hob die Schultern. »Ich glaube nicht.«
»Nach christlicher Legende ist Ahasver der Name des Ewigen Juden. Der Überlieferung nach soll er ein Haus besessen haben, das sich auf dem Weg zum Kalvarienberg befand. Er verweigerte Jesus darin eine Ruhepause, als der Verurteilte an ihm vorüberkam. Weißt du, wie man in der Amtssprache ein solches Vergehen nennt?«
Nico schluckte. »Unterlassene Hilfeleistung?«
Der Meister nickte.
»Was ist aus Ahasver geworden?«
»Er wurde dazu verdammt, ruhelos umherzuwandern, bis Jesus wiederkehrt. Die Christenheit kramt diese Legende immer wieder gerne hervor, um die Leiden unseres Volkes zu begründen. Es ist für sie natürlich viel einfacher, denen die Schuld zu geben, die ihren Heiland dem Henker ausli e ferten, als sich selbst für die Pogrome und all die anderen Unmenschlichkeiten zu verantworten, die sie dem Volk Israel in der Diaspora angetan haben.«
Nicos Blick senkte sich auf den vor ihm stehenden Teller. Darin dampften Tafelspitz, Meerrettichsoße und Kartoffeln. »Ich trage auch an einer schweren Schuld.«
Lea saß neben ihm. Sie legte ihren Arm um ihn und drückte ihn an sich. »Du hast deinen Vater nicht getötet, Nico. Wie oft habe ich dir das schon erklärt!«
»Aber ich hätte es verhindern können.«
»Das ist ungewiss.«
»Und sein Mörder läuft mit Sicherheit noch frei herum.«
Johan nickte gewichtig. »Und deshalb bist du ahasverisch – deine Seele findet keine Ruhe. Du glaubst, die Schuld auslöschen zu können, indem du Manzini umbringst? Lass dir eins sagen. Junge: Wenn du diesen Gedanken nicht aus deinem Geist verbannst, wird er selbst sich in einen Geist verwandeln, der dich ewig über den Erdboden treibt. Mach diesem Umherirren ein Ende, bevor es beginnt.«
Tränen stiegen in Nicos Augen. Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Aber es hat doch längst begonnen. Ich bin von Nettuno immer weiter nach Norden geirrt, und hier finde ich auch keine Ruhe. Ich muss nach Italien zurück.«
»Zuerst musst du deine Lehre beenden. Bald wirst du siebzehn. Ohne eine solide Ausbildung kommst du nicht weit.«
»Ich kann jede Uhr reparieren, die du mir gibst.«
»Ja, Niklas, sogar besser als ich. Das steht außer Frage. Aber die Reife und die Weisheit eines Menschen misst sich weniger an der Menge des Wissen, mit dem er seinen Kopf gefüllt, oder der händischen Geschicklichkeit, die er erwo r ben hat, als vielmehr daran, was er mit seinen Gaben a n fängt. Weißt du noch, was ich dir einmal über die Zeit g e sagt habe? Man kann sie in keinen Damm zwingen, sondern sie auf ihrem Lauf nur wie ein Schiff begleiten. Nutze di e sen mächtigen Strom für dich, mein Junge, dann wirst du dich stetig deinem Ziel nähern, anstatt ruhelos hierhin und dorthin getrieben zu werden.«
Nico konnte sich der Vernunft dieses Rats nicht ganz en t ziehen, zumal ein überstürzter Weggang viele
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