Der Herr der Unruhe
strebte, erklärte er: »Gut, dann werde ich jetzt in den Kommunalpalast fahren, damit Sie hier Ihre Pflicht tun können. Geben Sie Acht, dass es meiner Lebensuhr an nichts fehlt, Signor Michel. Ihre ›Freundin‹ Laura wird Ihnen Gesellschaft leisten.«
Nico wollte gerade im Rücken des strengen Vaters e r leichtert aufatmen, als sich der noch einmal umdrehte.
»Besser, Sie gewöhnen sich nicht allzu sehr daran.«
Es war mehr als ein vorübergehender Witterungseinbruch. Die Abkühlung nahm Besorgnis erregende Ausmaße an, und das bezog sich nicht allein auf die kalten Monate von November 1939 bis Ende Februar des darauf folgenden Jahres. Offenbar traute Manzini seinem Hüter der Leben s uhr doch nicht mehr so recht über den Weg. Zumindest die ihm nur allzu geläufigen Triebe wollte der Vater gezügelt wissen, weshalb seine Tochter ihren ›Freund‹ nun nicht mehr so oft beim Aufziehen und Bewegen der Lebensuhr bewachen durfte. Bisweilen widmete sich der Podestà des vereinigten Nettunia dieser Aufgabe nun höchstselbst. Meistens musste der Herr der Unruhe jedoch mit dem tu m ben Chauffeur Uberto als Gesellschafter vorlieb nehmen.
Wie sich bald herausstellte, war das nicht einmal das Schlimmste. Nico hatte schon lange vermutet, dass Uberto mit seinem schroffen Gehabe nur die eigene Unsicherheit bemäntelte. Manchmal verhielt der Fahrer sich wie ein tol l patschiger Junge, den irgendeine böse Fee im Körper eines fast fünfzigjährigen Mannes eingesperrt hatte. Wenngleich sein Verstand – in der Sprache der Uhrmacher ausgedrückt – ein kleines Kaliber war und er zudem mit allem Techn i schen auf Kriegsfuß stand, besaß er doch seine Qualitäten.
Seit Mitte der zwanziger chauffiere er nun schon Manzini »ohne eine einzige Karambolage«, berichtete er einmal in redseliger Stimmung. »Der Podestà und ich sind durch eine unsichtbare Kette verbunden.« Nico sah es seinem Aufpa s ser nach, wenn er nicht immer die richtigen Worte fand. Auf seine ganz spezielle Art war Uberto eine treue Seele. Ein offener Verrat an seiner Herrschaft kam für ihn nicht in Frage. Weil die Rettung der kleinen Marianna Grilli ihm »schwer imponiert« hatte, war er nun auch dem Walze n bändiger wohlwollend zugetan. Bald entwickelte sich zw i schen ihnen fast so etwas wie eine kollegiale Freundschaft.
Eines Morgens saß Uberto wieder einmal dem Herrn der Unruhe im Arbeitszimmer gegenüber. Seine klobigen Hä n de hatte er über dem Besprechungstisch gefaltet, und er beobachtete – weniger aus Misstrauen denn aus Bewund e rung – jede von Nicos Bewegungen. Dieser wollte gerne ein Gespräch beginnen.
»›Gute Uhrwerke sind sie: Nun sorge man, sie richtig au f zuziehn! Dann zeigen sie ohne Falsch die Stunde an und machen einen bescheidenen Lärm dabei.‹«
Die breite Stirn des Chauffeurs wellte sich. »Was hast du gesagt?«
Nico lächelte, als müsse er sich für etwas entschuldigen. »Mein Meister in Wien war ein belesener Mann. Er hat mich Schillers Tell auswendig lernen lassen, um mir die deutsche Sprache näher zu bringen. Das Zitat eben ist alle r dings aus dem Zarathustra von Friedrich Nietzsche.«
»Ich lese keine Bücher.«
»Was tust du dann, wenn du mal nicht auf mich aufpassen oder Don Massimiliano herumkutschieren musst?«
Der Hüne hob die Schultern. »Ich hab wenig Freizeit. Ab und zu gönne ich mir einen guten Fisch in der Trattoria um die Ecke und dazu ein Tröpfchen Cacchione .«
»Auch nicht schlecht. Sprichst du mit Don Massimiliano nie über private Dinge?«
»Selten. Er ist immer so beschäftigt.«
»Ich frage mich, warum er sich mir gegenüber in letzter Zeit so distanziert verhält. Vielleicht habe ich etwas falsch gemacht, das sich wieder geradebiegen lässt. Du hast nicht zufällig eine Ahnung, warum er dermaßen … frostig ist?«
Uberto schwieg eine Weile. In ihm schienen zwei Parte i en einen Kampf auszutragen. Der Sieger antwortete schließlich: »Du bist bei den Menschen sehr beliebt, Ni k las.«
»Ist das neuerdings ein Verbrechen?«
»Für Don Massimiliano vielleicht schon.«
»Das musst du mir erklären.«
»Er will selbst beliebt sein.«
»Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Dich behandelt er manchmal wie den letzten Dreck.«
»Ich sage nur, was ich denke«, erwiderte Uberto, ohne auf die provokante Bemerkung einzugehen.
»Glaubst du nur, dass unser Stadtoberhaupt die Gunst se i nes Volkes mit niemand anderem teilen will, oder hat er dir gegenüber etwas Konkretes
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