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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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gehört?«
    »Es klang wie das Rauschen des Meeres.«
    Nico nickte. Seine Stimme war jetzt leise und sanft. »Weshalb sagst du, es sei wie die See gewesen? Vielleicht hast du tatsächlich der Brandung gelauscht, oder vielmehr der Erinnerung, die deine Muschel noch daran hatte.«
    »Unsinn. Muscheln sind aus Horn und Kalkspat und was weiß ich nicht alles. Solches Zeugs hat kein Gedächtnis.«
    »So? Hast du noch nie die Spuren der Witterung auf einem
    Kalkfelsen gesehen? Die Archäologen können dir daraus ganze Geschichten vorlesen. Oder ein paar Fußstapfen im Sand? Einem Fährtensucher verraten sie viel über ihren Urheber. Vielleicht hast du schon einmal ein Bild von der Wand genommen und durch
    den zurückbleibenden Fleck noch nach Tagen oder Wochen den Rahmen vor dir gesehen. Glaube mir, Laura, selbst die Leblosen haben ein Gedächtnis. Wo nämlich Kräfte wirken, hinterlassen sie auch Spuren. Ich kann diese Fährte lesen.«
    Laura massierte mit den Händen ihre Oberarme. »Worauf
    willst du hinaus, Niklas?«
    Er hielt ihr die offene Rechte entgegen. Darin lag die Kapsel aus dem Hörer. »Das hier habe ich aus dem Telefon deines Vaters genommen. Bevor ich vorhin an seine Tür klopfen konnte, habe ich bruchstückhaft ein Gespräch mitbekommen, das er …«
    »Du hast meinen Vater belauscht?«, unterbrach sie ihn entsetzt.
    »Bitte lass mich erst ausreden, bevor du dir ein Urteil bildest.
    Also, der andere Gesprächsteilnehmer ist dir bekannt. Es handelt sich um denselben Deutschen, der deinen Vater im September des letzten Jahres besucht hatte, als …«
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    »Du ihn schon einmal belauscht hast.«
    »Wenn du es so sehen willst.«
    »Falls es anders war, kannst du es mir ja erklären«, gab sie spitz zurück.
    »Laura, ich verstehe dich ja, aber bitte versuche für einen Moment, dein Misstrauen zu vergessen.«
    »Wenn du mir endlich die Wahrheit sagst, Niklas.«
    »Zuerst lass diese Kapsel aus der Ohrmuschel zu dir spre-
    chen.«
    »Bist du jetzt verrückt geworden? Wie soll …?«
    »Bitte, Laura!«
    Sie verschränkte die Arme über der Brust und schwieg. Nico schraubte nun auch die andere Seite des Telefonhörers auf und entnahm ihr das Mikrofon, das sich kaum von dem Lautsprecher unterschied. Er legte die beiden Kapseln in jeweils eine Handflä-
    che. »Ich werde jetzt den Part deines Vaters übernehmen, indem ich wiederhole, was er vor wenigen Minuten in diese Kapsel gesprochen hat. Wenn ich eine Pause mache, wiederholst du, was du in meiner hohlen Hand hörst. Alles klar?«
    Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nichts ist klar. Was soll dieser Hokuspokus?«
    »Glaube mir, Laura, es hat nichts mit Zauberei zu tun.«
    »Dann erkläre mir, was das soll.«
    »Kannst du mir genau erklären, wie dein Gehör oder deine Augen funktionieren? Niemand vermag das. Trotzdem vertrauen wir unseren Sinnen. Ich tue nichts anderes, obwohl ich meine Gabe selbst nicht richtig verstehe. Sagen wir einfach, ich lasse die Energien frei, die sich in diesen beiden Kapseln eingelagert haben. Genügt dir das, um mir wenigstens für ein paar Minuten Vertrauen zu schenken?«
    Mit seiner Frage hatte Nico bei ihr einen empfindlichen Nerv getroffen. Schmollend erklärte sie sich zu dem »absurden Experiment« bereit. Er hielt ihr die Hand mit der Lautsprecherkapsel ans Ohr und lauschte selbst ins Mikrofon.
    »Den ersten Satz des Telefonats kann ich nicht mehr zurück-240
    holen, weil ich ihn bereits aus dem Gedächtnis der Kapsel abge-rufen habe«, entschuldigte er sich. »Karl Hass – das ist der Deutsche, den ich eben erwähnte – sagte in etwa: ›Wir müssen jetzt noch vorsichtiger sein. Also nennen Sie nicht meinen Namen!‹
    Die Antwort deines Vaters darauf lautete …« Er ließ seine Gabe auf die Kapsel einwirken. Mit einem Mal begann die Membran des Mikrofons zu schwingen, die Wellen pflanzten sich in der Luft fort und trafen auf sein Trommelfell. »Ist mir recht. Haben Sie etwas herausgefunden?«, wiederholte er Manzinis Antwort.
    Unbewusst ahmte er sogar den tiefen Klang seiner Stimme nach.
    Jetzt deutete er auf Laura. »Was hörst du?«
    Ihre Augen wurden groß. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.
    Sie zuckte zurück.
    »Sprich!«, forderte Nico sie eindringlich auf und legte seine Hand wieder an ihr Ohr. Mit leiser Stimme wiederholte sie die Worte des SS-Sturmbannführers und fiel dabei unwillkürlich in dessen schweren Akzent.
    »Ja. Hat zwar ein paar Monate gedauert, aber wie ich Ihnen bereits sagte, bleibt der

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