Der Herr der Unruhe
nach den kleinen Wundern. Und mich –« Sie drehte ihren Kopf wieder dem Toten zu – »lass nun bitte in Frieden meinen Mann begraben.«
Der Leblosen Liebling hatte eine ungefähre Vorstellung, wie sich ein frisch gepflügtes Feld fühlen musste. Ihm ging es ganz ähnlich, als er den Palazzo Manzini verließ und zu den schwelenden Trümmern des Panzers zurückkehrte. »Zur bestimmten Zeit wird ihr Fuß wanken«, hieß es in der Thora, und auch Lorenzo Di Marco hatte das gesagt. Er konnte unmöglich geahnt haben, wie buchstäblich sich seine Vorhersage erfüllen sollte. Der Mörder von Emanuele dei Rossi und wohl noch vielen anderen lebte nicht mehr.
Irgendwie hat er sich selbst gerichtet, dachte Nico. Er empfand keinen Triumph. Überhaupt verwunderte ihn die befremdliche Stille, die in seinem Innern herrschte, obwohl er Laura so sehr vermisste. Sie war einfach verschwunden. Mit seinem Tod hatte ihr Vater alles zum Erlöschen gebracht. Den Durst nach Rache.
Den Hass. Die Wut. Die Hoffnung …? War er betäubt? Vielleicht lag es an seiner Umgebung. Kein einziger Schuss war in Nettunia zu hören. Es bedeutete nicht den Frieden. Nur die Ruhe vor dem Sturm.
Aber davon wusste er noch nichts, als er vor dem halb von Trümmern begrabenen Häuflein verbogenen und zusammenge-schmolzenen Metalls stand, das einmal Albino gewesen war. Noch ein Freund, von dem er Abschied nehmen musste.
483
Nettunia und Genzano di Roma, 1944
m 23. Januar 1944 schlugen die Deutschen mit brutaler Ge-
A walt zurück. Sie umzingelten den Brückenkopf der Alliierten und konnten ihn beinahe spalten. Vier Stunden lang verwan-delten die Bomber der Luftwaffe den Hafen von Anzio und die nähere Umgebung in ein Flammenmeer. Und Nico dei Rossi war mittendrin.
Albino hatte er schweren Herzens dem Gang alles Irdischen anbefohlen. Das Motorrad war nur noch Schrott. Nico fehlte auch die Muße, mit dem zerschmolzenen Blech und verbogenen Stahl das Kunststück zu wiederholen, das ihm einst bei der Turmuhr des Palazzo Comunale gelungen war. Um ihn herum tobte ein er-barmungsloser Krieg, dessen schreckliches Ausmaß er nur schlag-lichtartig wahrnahm. Es sollte noch lange dauern, bis er auch nur annähernd begriff, welchem Feuersturm er und die Menschen um ihn herum in den folgenden Wochen ausgesetzt waren.
Mehr als um alles andere sorgte er sich um Laura. Er hatte sie nirgends in Nettuno gefunden. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Es hätte ihn stutzig machen sollen, dass Manzinis Lancia verschwunden war, aber darauf kam er erst, als es bereits zu spät war.
Die Schlacht um Anzio und Nettuno dauerte etwa vier Mo-
nate. An die fünftausend Soldaten verloren dabei im Namen der Freiheit ihr Leben. Später sollten die Historiker sich noch lange über den Sinn oder Unsinn der Operation Shingle streiten. Einige hielten die Landung der alliierten Truppen im Rücken der deutschen »Gustav-Linie« für den größten strategischen Fehler des 484
Zweiten Weltkrieges. Aber die leuchtenden Kreuze auf dem amerikanischen Militärfriedhof in Nettuno überstrahlen jede finstere Kritik.
Dabei begann alles so viel versprechend. Nach dem ersten Vorstoß hatten die Alliierten mehr als sechsunddreißigtausend Mann sowie über dreitausend Fahrzeuge an Land gesetzt. Die deutschen Verteidiger wurden völlig überrascht, einige sogar im Schlaf. Die Verlustliste der Invasoren zählte »nur« dreizehn Kämpfer.
Vordringliches Ziel war, den Brückenkopf zu befestigen sowie die Eisenbahn- und Schnellstraßen nach Rom unter Kontrolle zu bringen, damit der deutsche Nachschub unterbrochen wurde.
Gleichzeitig sollte durch das Ablenkungsmanöver die den italienischen Stiefel zwischen Minturno und Ortona durchschneidende deutsche Verteidigungslinie geschwächt werden. U.S. Major General John P. Lucas zögerte jedoch, das Überraschungsmoment auszunutzen und schnell in die Albaner Berge vorzustoßen, um sich mit den an der Gustav-Linie kämpfenden Einheiten von General Mark Clarks 5. Armee zu vereinigen. Lucas hielt seine Truppenstärke für zu schwach.
Für Nico bedeutete das Sichhinziehen der Kämpfe im Frühjahr 1944 vor allem eine zunehmend unerträgliche Ungewissheit. Zwischen den deutschen Bombardements hatte er tagelang nach Laura gesucht, aber weder sie noch der schwarze Lancia Astura tauchten irgendwo auf. Uberto hatte einmal gesagt, er habe ihr Fahrunterricht gegeben. Wohin um alles in der Welt konnte sie in den ersten Stunden der alliierten Landungsoperation
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