Der Herr der Unruhe
er das Auftragsbuch seines Vaters in Manzinis Safe entdeckt hatte, war ihm kein zweiter Blick in den verborgenen Stahlschrank geglückt.
In Ubertos Gegenwart wagte er ohnehin nicht, im Allerheiligsten des Podestà herumzuschnüffeln.
Wenn ihn hingegen Laura ab und an beaufsichtigte, suchten seine Augen nach belastenden Dokumenten. Gleichzeitig fühlte er sich wie ein Verräter. Zwei Seelen stritten in seiner Brust. Die eine wollte Laura gewinnen, aber die andere versuchte ihm dieses Ansinnen in gehässigem Ton auszureden: Du Narr! Ihr beide lebt in zwei verschiedenen Welten. Vergiss nicht, was Bruno über das Wasser gesagt hat, das nie den Berg hinauffließen wird. Du wirst Laura in tausend Jahren nicht heiraten können …
Im Laufe des Winters kreuzte der Kämpfer für Gerechtig-
keit und Freiheit mehrmals bei Nico auf, jedes Mal mitten in der Nacht. Ihre Unterhaltungen dauerten gewöhnlich bis zum Morgengrauen. Bruno prahlte mit den zunehmend dreister
werdenden Aktionen, die seine Leute als angemessenen Protest gegen das totalitäre Regime ansahen – Stinkbomben standen bei den Aufrührern immer noch hoch im Kurs. Natürlich ver-strich keine seiner Stippvisiten ohne einen weiteren Anwer-bungsversuch, und Nico lehnte mit derselben Beharrlichkeit ab. Dann wieder ließ der junge Rebell seine feinfühlige Seite durchscheinen. Geduldig hörte er sich Nicos Sorgen an, und nicht selten erkundigte er sich sogar nach Laura. Er war der 211
Einzige in diesen Tagen, dem Nico seine inneren Nöte anvertraute.
Verbotene Kirschen sind bekanntlich süß. Deswegen brachte Nico es nicht übers Herz, Laura mit der schmerzlichen Wahrheit zu konfrontieren. Wie konnte er auch? Wenn sie ihn vor dem Palazzo abpasste oder ihn in dem alten Gemäuer in irgendeine dunkle Ecke zog, um ihn für einen unbeobachteten Moment ganz für sich zu haben, dann schwand ihm der Mut, sie zu verletzen.
Jede sanfte Berührung, wenn sie seine Hand oder die Wange streichelte, jeder noch so leichte Kuss, den sie ihm in Momenten der Freude aufs Gesicht hauchte, machte ihn glücklicher und stürzte ihn zugleich in immer tiefere Verzweiflung. Ein dunkler Abgrund klaffte in seiner Seele.
Manchmal, wenn er im Arbeitszimmer irgendein Schriftstück herumliegen sah, wurde jene Hälfte seines Wesens, die seinen Verstand kontrollierte, unerbittlich. Dann suchte er nach Möglichkeiten, Laura abzulenken. Er täuschte brennenden Durst vor oder erfand andere Vorwände, um sie für kurze Zeit aus dem Arbeitszimmer zu schicken. Mitunter gelang ihm dies tatsächlich.
Aber danach fühlte er sich zum Erbrechen elend, umso mehr, da er noch nie etwas Verwertbares entdeckt hatte. Er sah Sitzungs-protokolle, Programmvorschläge des Pfarrers für das nächste Ge-meindefest und eine Statistik über die erfolgreiche Ausmerzung herumstreunender schwarzer Katzen – Sechsundsechzig seien gefangen sowie verbrannt worden, meldete der amtliche Kam-merjäger zum Jahresende und verkündete stolz, die Stadt sei nun
»katzenrein«.
Anfang April 1940 machte in Nettunia die Nachricht von
einem mysteriösen Todesfall die Runde. Ein Fischer, dem man nachsagte, er habe mit seinem Boot gelegentlich für den Stadtvorsteher vertrauliche Transporte übernommen, war mit dem Kopf zwischen zwei Schiffe geraten. Wie bei solchen Unglücksfällen üblich, kursierten anschließend Gerüchte über einen möglichen Mord. Ebenfalls gewohnt war man an die ergebnislose Polizei-arbeit. Die Ermittlungen wurden schnell eingestellt.
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Für Nico deutete sich zur gleichen Zeit eine leichte Entspannung der Lage an. Der Herr der Unruhe hatte sich keine weiteren Auffälligkeiten geleistet, weshalb ihn Manzini eines Morgens in der Galerie seines Palazzos abpasste und fragte: »Sind Sie zufrieden?«
Dafür hätte Nico ihn am liebsten über die Brüstung gestoßen, damit er im Lichthof unten Michelangelos Adam Gesellschaft leiste, aber sein Vater und Meister Mezei hatten ihn weder zum Mörder noch zum Dieb erzogen. Und auch nicht zum Lügner.
Seine Erwiderung entsprach durchaus der Wahrheit. »Ich verstehe nicht …«
»Ob Ihnen Ihre Arbeit Spaß macht, will ich wissen. Fehlt
Ihnen irgendetwas?«
»Nun, ja, was den Lohn betrifft …«
»Darüber ließe sich verhandeln.«
»Viel mehr Überstunden, als ich im Moment schiebe, kann ich kaum …«
»Sie arbeiten rund um die Uhr für mich, Signor Michel. Darum geht es mir nicht. Es ist nur so, dass manchmal der Eindruck ent-steht, es wären Sie, der in
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