Der Herr der Unruhe
gesehen. Bist du Kommunist?«
»Nein, bin ich nicht. Mein Meister in Wien war Sozialdemokrat, und er hat auch mit einigen Ideen der Kommunisten sympathisiert – aber was hat das mit der Spritztour in die Albaner Berge zu tun?«
»Sonntag ist der 26. Mai.«
»Na so was.«
Laura stieß ein glockenhelles Lachen aus. »Corpus Christi, du Dummerchen! Feiert man es ihn Wien nicht schon heute?«
»Am Donnerstag? Ach, du meinst Fronleichnam !«
Sie verdrehte die Augen. »Guten Morgen! Für Wunder hast du wohl nicht viel übrig.«
»Wieso?«
»Beim Abendmahl wird das Brot durch ein Wunder in den
Leib des Herrn verwandelt und der Wein in sein Blut.«
Nico schluckte. Dieser Teil der christlichen Lehre hatte ihm immer Unbehagen bereitet; im Judentum gehörte Kannibalismus zu den Todsünden.
»Wir könnten gegen halb elf losfahren«, schlug Laura vor,
»wenn dein Dienst hier beendet ist. Pilger aus dem ganzen Land strömen zu der Prozession nach Genzano di Roma.«
»Klingt nach einem beschaulichen Nachmittag.«
Sie machte einen Schmollmund. »Wäre das hier ein Wettbewerb in Begeisterung, würdest du glatt den letzten Platz belegen.«
Nico fühlte, wie sein Herz sich verkrampfte, während es
gleichzeitig heftig zu schlagen versuchte. An dem Festzug lag ihm nichts. Aber möglicherweise wäre Lauras entspannte Stimmung und die Anonymität der Masse genau der richtige Rahmen, um ihr ein paar schmerzliche Dinge zu sagen. Er nickte.
»Also schön. Ich fahre mit dir dahin.«
218
Sie trafen sich an der Landstraße, die wie der Griff einer Hantel die beiden Teile der Zwillingsstadt verband. Diesmal hatte Laura ihr Fahrrad hinter einem Busch versteckt, um jede zufällige Entdeckung auszuschließen. Allein ihr Anblick nahm Nico fast jeden Mut. Sie trug ein leichtes cremefarbenes Kleid, das mit blauen Blümchen übersät war. Wenn die Sonne hindurchschien, konnte er ihre Beine sehen. Nachdem er vom Motorrad gestiegen war, legte sie ihre Hände um seinen Hals und küsste ihn.
»Ich freue mich so!«
»Ja.«
»Was ist mit dir?«
»Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache.«
»Dann werde ich mir Mühe geben, das zu ändern.« Sie küsste ihn ein zweites Mal.
»Hast du eine Jacke dabei? Für die Rückfahrt, meine ich.«
»Alles da drin.« Sie deutete auf eine geflochtene Tasche, deren Henkel über ihrer Schulter hing.
»Na, dann nichts wie los.«
Laura setzte sich eine dunkle Sonnenbrille auf, band sich ein blaues Kopftuch um und stieg hinter Nico auf das Motorrad. Ihre Hände legten sich auf seine Brust. Schnell trat er das Anlasserpedal, und Albino sprang wie ein übermütiges Fohlen an.
Mit dezentem Röhren trug der eiserne Hengst die beiden
durch Anzio hindurch, ungefähr dreißig Kilometer weit in die Albaner Berge hinauf.
In Genzano di Roma herrschte schon am Mittag ein reges Treiben, obwohl die Corpus-Christi-Prozession erst auf den frühen Abend angesetzt war. Eine Weile spazierte das Paar Hand in Hand durch die Stadt. Nico wiederholte in Gedanken noch einmal die Worte, die er sich in der ersten Hälfte der Woche zurechtgelegt hatte, und Laura schleckte Eiscreme. Mit einem Mal standen sie vor einem Wunder.
»Da staunst du, was?«, sagte Laura schmunzelnd.
Große Augen wandten sich ihr zu. Er nickte. Dann kehrte sein Blick zu der breiten Straße zurück, die schnurgerade einen Hügel 219
hinaufführte und oben vor einer weißen Kirchenfassade endete.
Das Pflaster war, abgesehen von einem schmalen Gehweg zu
beiden Seiten, mit Blumen übersät. Aber nicht wahllos, als habe man hier Christus auf dem Weg zum Altar einen bunten Teppich unter die Füße legen wollen, bevor er seinen Leib in das heilige Sakrament des Abendmahls verwandelte, sondern in duftenden Bildern. Manche zeigten Szenen aus dem Leben von Heiligen, andere lediglich hübsche Ornamente.
»Es ist unglaublich!«, staunte Nico.
»Nicht wahr? Ich habe noch ein paar andere Überraschungen für dich geplant. Komm, ich zeige dir etwas, das mindestens ebenso unglaublich ist.« Sie nahm ihn wieder bei der Hand und zog ihn in die Menge, die sich den Berg hinaufdrängelte. Oben angekommen, führte Laura ihn durch kleine Gässchen, bis sie vor einer Mauer standen, die ihnen eine atemberaubende Aussicht eröffnete.
Weit unter ihnen lag ein blauer, in einem grünen Kessel liegender Kratersee. Der Gegensatz zwischen dem Trubel auf der Straße der Blumen und diesem friedlich stillen Anblick hätte kaum grö-
ßer sein können.
»Der Spiegel der Diana«,
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