Der Herr der Unruhe
wenigstens eine nahezu fünfzigprozentige Chance, von dem Erreger verschont zu werden.
»Gegen die Mücken kannst du dich schützen«, sagte eine etwa 215
sechzigjährige Witwe aus Nettuno zu Nico, nur wenige Stunden nachdem Don Massimiliano den »Bannspruch« über ihn verhängt hatte. Für alle in der Stadt hieß sie nur »Signora Tortora«. Neben dem Vornamen schien es ihr auch an manch anderem zu mangeln das eine Dame gemeinhin ausmachte. Die Tortora war als ungesellige Vettel verschrien, unordentlich und mit ihren um die Knie geringelten Seidenstrümpfen als Verkörperung der Schlampigkeit stadtbekannt. Nico hielt die in der Altstadt, am Ende der Via Veneto wohnende Frau allerdings für ein Phänomen, nicht nur weil sie sechs verschiedene Sprachen beherrschte. Er gehörte zu den Wenigen, die ihre Zuneigung genossen, da er schon mehrmals das lahmende Pendel ihrer Standuhr in Schwung gebracht hatte.
Seine Eroberung sollte sich noch als nützlich erweisen, nicht allein weil er dank ihres »alten Hausmittels« beruhigter gegen die blutrünstigen Schwärme ausziehen konnte.
Einen Nachteil hatte die schwarzbraune, ölige Substanz
allerdings. Ihr übler Gestank hielt mehr als nur stechende In-sekten fern. Selbst wenn er sich abends mit der Wurzelbürste abschrubbte, bekam er den Geruch nie ganz aus der Haut. Nico selbst fühlte sich zwar frisch und rein, aber sobald er am Morgen im Palazzo Manzini erschien, rümpfte jeder – selbst der sonst so dickhäutige Uberto – die Nase.
Laura schüttelte sich regelmäßig, wenn der »Gymnastiklehrer von Papàs Lebensuhr« sie begrüßte. Er wusste nie so recht, ob sie ihn mit ihrer heftigen Reaktion nur aufzog. Obwohl es im Arbeitszimmer ihres Vaters ohnehin ständig nach Zigarrenqualm roch, verteilte sie mit Wonne ganze Wolken ihres Jasminparfüms über seinen Körper. Nico trug diese Unbilden mit Fassung, wenn er nur wieder öfter in ihrer Nähe sein durfte. Und so blühte, während die Natur ihre volle Pracht entfaltete, auch die Liebe der zwei jungen Menschen immer weiter auf.
Es waren sonnige Wochen, die der Ruhe vor einem Sturm
glichen. Mussolini hatte ja eine Beteiligung Italiens an dem Krieg nicht vor 1942 in Aussicht gestellt. Aber nun gingen Ge-rüchte um, dass die raschen Erfolge der Deutschen Wehrmacht 216
Begehrlichkeiten in ihm weckten. Polen war innerhalb eines Monats überrannt worden. Nun, im April 1940, wurde Däne-mark besetzt, und Norwegens völlige Eroberung war nur noch eine Frage der Zeit. Konnte Benito Mussolini der Versuchung widerstehen, sich bei der Verteilung des Bratens einige Filetstü-
cke zu sichern? Würde der Wankelmut des Duce erneut in einen Wortbruch umschlagen?
Sah man einmal von den wirtschaftlichen Sorgen der Leute
ab, dann bot das kleine Reich von Nettunia im Mai 1940 noch ein friedliches Bild. Der Krieg schien in einer anderen Welt zu toben.
Die Sonne stach bereits wie im Sommer, die Römer kamen, um sich am Strand zu vergnügen, und auch das Verhältnis zwischen dem Doctor Mechanicae und seinem Vorgesetzten war überwie-gend heiter – man beschränkte sich auf ein gegenseitiges Belauern. Es kam Nico zwar nicht in den Sinn, für Don Massimiliano Propaganda zu machen, aber er verordnete sich etwas mehr Zu-rückhaltung, wenn die Menschen ihn um technische Hilfe baten und er sie als Entschädigung für seine Gefälligkeiten über den Podestà ausfragte. Bisher hatte ihm diese Art von Ermittlungen ohnehin wenig eingebracht. Wenn es Zeugen für irgendwelche ungesetzlichen Machenschaften Manzinis gab, dann standen
diese vermutlich in dessen Sold. Oder sie waren tot.
»Fährst du mit mir am Sonntag nach Genzano?«, wisperte
Laura kurz vor Ende der vierten Maiwoche. Ihr Atem steckte Nicos Ohr in Brand. So viel Vorsicht war eigentlich nicht nötig, denn wie immer, wenn die zwei am Besprechungstisch im Arbeitszimmer saßen, sprachen sie Deutsch miteinander; Uberto, der draußen auf der Galerie herumlungerte, konnte sie also ohnehin nicht verstehen.
»Willst du, dass dein Vater mir wieder die Hölle heiß macht?«, fragte Nico.
Auf ihrer Nase bildeten sich kleine Fältchen. »Wir können ja diesmal etwas vorsichtiger sein.«
Nico war hin und her gerissen. Vielleicht bot sich bei dem Ausflug ja die Gelegenheit zu einem offenen Gespräch. Irgend-217
wann musste er ihr die Wahrheit sagen. »Warum ausgerechnet Genzano?«
»Das ist wieder mal typisch für dich«, gab sie sich entrüstet
»Ich habe dich noch nie in der Kirche
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