Der Herr der Unruhe
hinter den meisten anderen, eine größere Zahl. Die Vermögen seiner Opfer?, rätselte Nico. Vor dem Namen sah er einen kleinen blauen Punkt, und weiter unten fand er eine ähnliche Ko-pierstiftmarkierung. Sie kennzeichnete Theodor Katz. So hieß der Jude aus dem litauischen Memel, der vor zwei Tagen mit seiner 236
Familie verschleppt worden war. Und dann fiel Nicos Blick auf den letzten Eintrag auf Seite drei.
Niklas (oder Nikolaus) Michel?
Er starrte seinen deutschen Namen an, als handele es sich um eine Zauberformel, die ihn gerade zu Stein verwandelt hatte. Über das Fragezeichen dahinter dachte er keine Sekunde nach. Auch dass der Podestà keine Schätzung über das Vermögen seines Gemeindemechanikers abgegeben hatte, war für ihn unerheblich.
Nach den gerade erst belauschten Gesprächsfetzen von Manzinis Telefonat stand für ihn fest, dass über ihm ein Damoklesschwert schwebte, und das Haar, das es am Fallen hinderte, konnte jeden Tag reißen.
Er traf einen verzweifelten Entschluss. Trotzig stopfte er sämtliche Aktendeckel aus dem Safe in den Jutesack. Danach klappte er die Tresortür zu, verstellte das Zahlenschloss und schwenkte die hölzerne Verblendung wieder vor den Schrank. Manzini
würde den Verlust frühestens am nächsten Morgen entdecken.
Nico lief auf die Tür zu, blieb aber nach wenigen Schritten stehen. Langsam sah er sich zum Telefon um.
Und wenn alles ein Irrtum war? Sollte er nur um eines – zuge-geben nicht gerade fadenscheinigen – Verdachts willen die Liebe seines Herzens aufgeben? Manzini war für sein Misstrauen bekannt. Und das Fragezeichen hinter dem Namen mochte auf seine Zweifel hinweisen. Bedenken, die sich möglicherweise zerstreuen ließen. Wenn nur nicht die Zeit so knapp wäre! Jeden Moment konnte Laura hier aufkreuzen. Nicos Blick wanderte zu den schweren grünen Samtvorhängen. Ja, so müsste es gehen …
Mit langen Schritten durchmaß er das Büro, das eigent-
lich kein Arbeitszimmer, sondern fast schon ein Saal war. Er schlüpfte hinter einen der Vorhänge und öffnete das dahinter befindliche Fenster. Durch eine Lücke in der gegenüberliegenden Häuserzeile sah er die Stiftskirche San Giovanni. Am langen Arm ließ er den Jutesack so weit wie möglich aus dem 237
Fenster hinab und öffnete die Faust. Dumpf schlug seine Beute auf dem Pflaster der Via del Limbo auf. Er lauschte. Nirgendwo öffnete sich ein Fenster. Niemand kam herbeigelaufen. Keiner hatte den Vorgang bemerkt.
Schnell versetzte er alles wieder in seinen alten Zustand und lief zum Schreibtisch. Er rieb nervös die Handflächen aneinander So etwas hatte er noch nie versucht. Aber es könnte gelingen. Mit flinken Fingern schraubte er den Deckel der Ohrmuschel vom Telefonhörer ab und entnahm ihm die kleine metallene Lautsprecherkapsel. Er legte sie in seine hohle Hand, hielt sie wie eine Muschel ans Ohr, schloss die Augen, konzentrierte sich – und fuhr wie von einem elektrischen Schlag durchzuckt zusammen.
Hass!, formte sein Mund, ohne dass ein Laut über seine Lippen kam. Doch plötzlich hörte er, wie jemand in unmittelbarer Nähe scharf Luft holte. Seine Hand fiel herab, der Kopf fuhr herum.
»Was tust du da mit dem Telefon meines Vaters?«, fragte Laura von der Tür her. Zwei Knöpfe am Ausschnitt ihres hellblauen Kleides standen offen. Ihr Haar floss wie ein schwarzer Wasserfall über ihre Schultern. Eine atemberaubend schöne Verkörperung des Argwohns.
»Ich, äh …« Nico rang nach Worten. Allein die Vorstellung, sie zu belügen, widerte ihn an. Nicht nach dem, was er gerade entdeckt hatte. Zu lange war er gespalten gewesen zwischen dieser Frau, die er mehr als jeden anderen Menschen liebte, und ihrem Vater, dessen Bosheit er abgrundtief hasste. Offenbar war dies die Nacht der unbequemen Entscheidungen.
»Komm bitte zu mir«, sagte er leise zu ihr.
Laura legte den Kopf schief. »Wieso, Niklas?«
»Weil ich dir mit dem Telefon etwas beweisen möchte.«
Sie schritt langsam durch den Raum. Er bemerkte, wie ihr
Blick zu der Glasvitrine abschweifte. Verdächtigte sie ihn etwa des Diebstahls? Du bist ein Dieb – schon vergessen?, erinnerte ihn eine Stimme in seinem Kopf.
»Die Lebensuhr liegt sicher an ihrem Platz.«
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»Wieso sollte sie nicht?« Das Mädchen blieb neben dem
Schreibtisch stehen. Immer noch lag ein Ausdruck des Argwohns auf ihrem Gesicht.
»Hast du schon einmal an einer großen Muschel gelauscht,
Laura?«
»Wer hat das nicht?«
»Was hast du
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