Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
du?«
»Mal hier, mal da. Als es noch warm war, unten am Kai. In der letzten Zeit hab ich in einer verlassenen Fabrik gepennt. Da gibt’s zwar einen Nachtwächter, aber der macht nur zweimal in der Nacht seine Runde.«
»Adolphus sagt, du kannst hier schlafen. Adeline würde dir wahrscheinlich sogar ein Bett zurechtmachen.«
Wütend verengten sich seine Augen zu Schlitzen. Für einen ungezähmten Straßenjungen gab es keine größere Beleidigung als den Versuch, ihn zu domestizieren. »Ich wollte einen Job, mehr nicht. Eure Wohltätigkeit brauch ich nicht.«
»Eins solltest du wissen, mein Junge, wenn du schon zu dumm bist, von selbst draufzukommen – ich mach nicht in Wohltätigkeit. Und es ist mir scheißegal, wo du schläfst. Von mir aus kannst du im Andel pennen. Ich habe nur ein Angebot von Adolphus an dich weitergeleitet. Wenn du es annehmen willst, bitte. Wenn nicht, auch gut.« Zum Beweis meiner Gleichgültigkeit widmete ich mich wieder meinem Bier. Kurz darauf schlich sich der Junge davon.
Ich beendete meine Mahlzeit und ging nach oben, bevor es in der Kneipe richtig voll wurde. Auf dem Rückweg vom Magierhorst hatte mein verletzter Knöchel wieder angefangen zu schmerzen, sodass ich die Treppe nur mit Mühe hochkam.
Ich legte mich aufs Bett und drehte mir eine Tüte mit Traumranke. Durch das offene Fenster wehte die Abendluft herein und vertrieb den Mief aus dem Zimmer. Während ich den Joint anzündete, dachte ich über das, was ich morgen vorhatte, nach. Der Geruch, den ich an der Leiche wahrgenommen hatte, hatte von etwas Stärkerem hergerührt als von einem Putzmittel, wie man es in der Küche oder im Bad benutzte. Und ein im Haushalt verwendetes Putzmittel würde nicht ausreichen, um einen Seher, der sein Handwerk verstand, von der Fährte abzubringen. Vielleicht kam eine der Seifen- oder Leimfabriken infrage, die kräftige Lösungsmittel benutzten. Auf diese Art Arbeit hatten die Kirener das Monopol. Deshalb hatte ich den Jungen losgeschickt, um meine Anwesenheit von ihrem obersten Boss absegnen zu lassen. Ich musste es unter allen Umständen vermeiden, bei meinen eigentlichen Geschäften Ärger zu bekommen, während ich diese Sache verfolgte.
Schließlich machte ich die Lampe aus und blies farbige Rauchringe in die Luft. Das war eine gute Mischung, angenehm auf der Zunge und stark beim Inhalieren. Nachdem sich das Zimmer mit kupfer- und sienafarbenen Schwaden gefüllt hatte, drückte ich die halb aufgerauchte Tüte an der Bettkante aus und schlief ein, erfüllt von einem Wohlbehagen, das mich den Lärm der Gäste unten nur als fernes Hintergrundgeräusch wahrnehmen ließ.
Ich träumte, wieder ein Kind zu sein, verwaist und obdachlos. Meine Mutter und mein Vater waren an der Seuche gestorben, meine kleine Schwester hatte man bei den Getreideunruhen zu Tode getrampelt, die vor drei Wochen ausgebrochen waren und anarchische Zustände herbeigeführt hatten. Das war der erste Herbst, den ich auf den Straßen der Unterstadt zubrachte. Damals lernte ich, wie man im Abfall nach Essen stöbert, lernte Schmutz und Dreck zu schätzen, weil er einen beim Schlafen wärmte. Damals erfuhr ich auch, wie tief ein durchschnittlicher Mensch sinken kann und was es zu gewinnen gibt, wenn man noch tiefer sinkt.
Ich kauerte mit angezogenen Beinen im hintersten Winkel einer Gasse. Ihr Kommen schreckte mich aus dem Schlaf.
»Hey, du Schwuchtel. Was hast du in unserm Revier zu suchen?« Es waren drei, älter als ich, wenn auch nur ein paar Jahre, die aber entscheidend waren. Es gehörte zu den seltsamsten Eigenheiten des Roten Fiebers, dass Kinder oft davon verschont blieben – diese drei waren möglicherweise die ältesten lebenden Menschen im ganzen Viertel.
Ich hatte nichts bei mir, das irgendwie von Wert gewesen wäre. Meine Kleidung bestand aus Lumpen, die beim Ausziehen auseinandergefallen wären, und meine Schuhe hatte ich im chaotischen Durcheinander des letzten Monats irgendwann verloren. Ich hatte seit anderthalb Tagen nichts mehr gegessen und schlief in einer Mulde, die ich mir an der Mauer einer Nebenstraße gescharrt hatte. Doch die drei wollten nichts von mir. Sie suchten lediglich eine Gelegenheit, gewalttätig zu sein. Die gegenwärtigen Verhältnisse ließen die natürliche Grausamkeit von Kindern außer Rand und Band geraten.
Ich rappelte mich hoch. So entkräftet war ich vor Hunger, dass mir sogar das schon Mühe bereitete. Die drei kamen auf mich zugeschlendert – zerlumpte Jugendliche, die
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