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Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Titel: Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Polansky
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fast genauso abgerissen aussahen wie ich. Der Anführer hatte den Kampf gegen das Fieber mit knapper Not gewonnen, davon legten die nässenden Geschwüre in seinem Gesicht Zeugnis ab. Ansonsten unterschied ihn nur wenig von seinen Gefährten. Hunger und Elend hatten sie fast ununterscheidbar gemacht und zu gespenstischen, zwischen Müll und Schutt lebenden Erscheinungen werden lassen.
    »Du hast vielleicht Nerven, du kleiner Schwanzlutscher. Kommst in unsere Gegend und hast nicht mal den Anstand, um Erlaubnis zu bitten.«
    Ich stand da, ohne ein Wort zu sagen. Schon als Kind fand ich die leeren Floskeln, die einer Gewalttat vorausgehen, absurd. Warum legten die nicht einfach los?
    »Hast du mir nichts zu sagen?« Der Anführer drehte sich zu den anderen zurück, als sei er von meinem schlechten Benehmen schockiert. Dann versetzte er mir einen Schlag gegen die Schläfe, der mich zu Boden streckte. Ich blieb liegen und wartete auf die Prügel, die mit Sicherheit gleich kommen würden. Ich war zu sehr an so etwas gewöhnt, um mir Gedanken darüber zu machen, ob das fair war. Er trat mir gegen den Kopf, bis mir alles vor den Augen verschwamm. Ich gab keinen einzigen Schrei von mir. Ich glaube, dazu fehlte mir einfach die Kraft.
    Mein Schweigen schien ihn zu ärgern. Plötzlich war er auf mir, um mich mit den Knien nach unten zu drücken und mir den Arm gegen den Hals zu pressen. »Schwuchtel! Scheißschwuchtel!«
    Von Weitem hörte ich, wie seine Kameraden vergeblich versuchten, ihn dazu zu bringen, von mir abzulassen. Als ich kurz Widerstand leistete, schlug er mir wieder ins Gesicht und beendete damit meinen halbherzigen Versuch, mich zu verteidigen.
    Ich lag auf der Erde, seinen Ellbogen an der Kehle, den Mund voller Blut, die Augen weit aufgerissen, und dachte bei mir: Das ist also der Tod. Doch er nahm sich reichlich Zeit, mich zu holen. Aber schließlich hatte Sie-die-am-Ende-aller-Dinge-steht in diesem Jahr in der Unterstadt viel zu tun gehabt, und ich war nur ein Junge. Ein kleines Versehen also, das man entschuldigen konnte, besonders da sie jetzt gekommen war, um ihren Fehler wiedergutzumachen.
    Langsam schwanden mir die Sinne.
    In meinen Ohren fing es an zu rauschen, ein Geräusch, das sich wie das Tosen eines Wasserfalls anhörte.
    Plötzlich schloss sich meine Hand um etwas Festes und Schweres, und ich knallte dem Jungen einen Stein gegen den Kopf. Der Druck gegen meinen Hals ließ nach. Wieder und wieder schnellte meine Faust nach oben, bis mein Gegner erschlaffte und ich mich auf ihn werfen konnte. Ich hörte seine und meine Schreie und schlug auf ihn ein, bis nur noch meine Schreie zu vernehmen waren.
    Dann trat Stille ein. Breitbeinig stand ich über dem Jungen. Seinen Freunden war das Lachen vergangen. Stattdessen sahen sie mich an, wie mich noch nie jemand angesehen hatte, und obwohl sie zu zweit und größer waren als ich, wichen sie vorsichtig zurück und rannten schließlich davon. Während ich ihnen hinterhersah, wurde mir klar, dass mir der Ausdruck, den ich in ihren Augen gesehen hatte, gefiel, und dass es mir außerdem gefiel, nicht derjenige zu sein, der ihn hatte. Und wenn das hieß, dass ich mir die Hände mit der Hirnmasse meines Gegners besudeln musste, dann war ich gern bereit, diesen Preis zu zahlen.
    Wildes Gelächter stieg in mir auf, das ich der Welt entgegenkotzte.
    Als ich erwachte, verspürte ich einen Druck auf der Brust und bekam schwer Luft. Ich richtete mich auf, zwang mein Herz, gleichmäßig zu schlagen, und zählte mit: eins, zwei, eins, zwei. Es war kurz vor Tagesanbruch. Ich zog mich an und ging nach unten.
    In der Kneipe war alles ruhig. Die Gäste waren nach Hause gegangen, um ihre Frauen zu verprügeln oder ihren Rausch auszuschlafen. Ich nahm an einem Tisch Platz und blieb ein paar Minuten im Dunkeln sitzen. Dann ging ich nach hinten.
    Das Feuer war erloschen, im Zimmer war es kalt. Neben dem Ofen lag ein Stapel unbenutzten Bettzeugs auf der Erde. Von dem Jungen keine Spur.
    Ich verließ die Kneipe und lehnte mich gegen die Mauer, um mir fröstelnd eine Zigarette zu drehen. Bis zum Morgen dauerte es noch ein paar Minuten, und in der Dämmerung hatte die Stadt die Farbe von Rauch. Mein Raucherhusten, angekurbelt durch die kühle Herbstluft, hallte laut in den menschenleeren Straßen wider. Ich zündete meine Selbstgedrehte an, um ihn zu lindern. In der Ferne verkündete ein Hahn den Tagesanbruch.
    Wenn ich den Dreckskerl fand, der das Mädchen abgemurkst hatte, würde

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