Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

die Zeit, bevor ich mich mit der Spezialabteilung eingelassen hatte. Damals hatte ich mit Crispin zusammengearbeitet. Gemeinsam hatten wir Türen eingetreten und Spuren verfolgt. Eine Weile waren wir ein ziemlich gutes Team gewesen – Crispin war scharfsinnig, äußerst scharfsinnig sogar, aber ich war noch besser. Seinerzeit lernte ich etwas, etwas über die Natur des Verbrechens, über Taten, die im Verborgenen bleiben sollen. Bei der Aufklärung eines Falles geht es nicht darum, Spuren zu finden oder etwas aus einem Verdächtigen herauszubekommen – es geht vielmehr darum, sich darüber klar zu werden, wonach man sucht, sich die Zielrichtung des Ganzen im Geiste zurechtzulegen. Wenn man es schafft, die richtigen Fragen zu formulieren, stellen sich die Antworten von selbst ein.
    Die meisten Verbrechen sind verdorbene Früchte der Leidenschaft und werden von jemandem begangen, der dem Opfer nahesteht. Ein Ehemann kommt betrunken nach Haus und schlägt mit einem Hammer auf seine Frau ein, der lebenslange Zwist zwischen zwei Brüdern bricht in offene Gewalt aus. Das sind zwar schreckliche, niederträchtige Taten, die sich aber ziemlich schnell aufklären lassen. Wenn das nicht so war, wenn es keinen eindeutigen Verdächtigen gab, hatte man bereits seine erste Frage.
    Wer profitierte von diesem Verbrechen?
    Aber das würde mir hier nicht weiterhelfen. Das erste Kind war von einem Unhold ermordet worden, an dessen Motiven nichts Rätselhaftes war. Es ging um sexuelle Befriedigung, darum, die wirren Stimmen zum Schweigen zu bringen, die er in der Stille der Nacht in seinem Innern hörte. Hinter dem zweiten Mord konnten jedoch, falls Mariekes Verdacht zutraf und das Mädchen tatsächlich geopfert worden war, alle möglichen Motive stecken.
    Aber das war doch immerhin etwas, nicht wahr? Ein abscheuliches Verbrechen, das nach Vergeltung der härtesten Art schrie. Wer immer dafür verantwortlich war, musste derart in Bedrängnis gekommen sein, dass er bereit war, ein solches Risiko einzugehen.
    Ich wusste zwar nicht, warum der Betreffende es getan hatte, aber zumindest konnte ich mir allmählich ein Bild von meiner Zielperson machen. Wenn sich das Motiv nicht entschlüsseln lässt, muss man sich der Frage zuwenden, wer dazu in der Lage ist, wer die Gelegenheit hat, das Verbrechen zu begehen.
    In dieser Hinsicht hatte ich auch kaum Anhaltspunkte. Wir hatten es nicht mit einer gestohlenen Börse oder einem aufgeschlitzten Bauch zu tun, Verbrechen, wie jede hinlänglich verkommene Person sie zuwege bringt. Die Heraufbeschwörung des Monsters war hochkarätige Magie, zu der nur ein erfahrener Zauberer imstande gewesen sein konnte. Und was noch besser war: Es gab lediglich einen begrenzten Kreis von Leuten, die diesen besonderen magischen Akt ausführen konnten. Die Operation Vorstoß war ein geheimes militärisches Projekt gewesen, folglich hatte man über das angewandte Verfahren nichts verlauten lassen.
    Jetzt hing alles von Crispin ab. Wenn er es schaffte, mir eine Liste derjenigen zu besorgen, die an dem Projekt beteiligt gewesen waren, konnte ich anfangen, Nachforschungen anzustellen. Wenn er es nicht schaffte, würde ich mich damit begnügen müssen, Unruhe zu stiften und zu hoffen, dabei einen anständigen Anhaltspunkt ans Tageslicht zu bringen. Allmählich wünschte ich, meinen ehemaligen Partner weniger heftig vor den Kopf gestoßen zu haben.
    Erneut spielte ich alle Möglichkeiten durch, statt mich mit dem auseinanderzusetzen, was wie ein Schatten über mir lag. Was die Frist anging, die der Alte mir gesetzt hatte, so bereitete mir die Vorstellung, meine letzten Stunden – vielleicht sogar Tage – mit einem rot gewandeten Mann zu verbringen, der in meinem Innern herumstocherte, während Crowley lachend danebenstand, zugegebenermaßen einiges Unbehagen. Aber ich kann ohne anzugeben sagen, dass ich dem Tod in meinem Leben oft genug ins Auge geblickt und gelernt habe, mich nicht davon anfechten zu lassen. Doch was mir Marieke gezeigt hatte – das rief Erinnerungen in mir wach, die ich in die tiefsten Tiefen meines Unterbewusstseins verbannt hatte, das erfüllte mich mit jener Art von Angst, die einen mitten in der Nacht schweißgebadet aus dem Schlaf auffahren lässt. Wenn das Rote Fieber tatsächlich in die Unterstadt zurückgekehrt war, dann war alles andere Nebensache, nichts als ein leichter Regen, der die kommende Sintflut ankündigte.
    Ließen die Abwehrzauber Blaureihers nach? Schwächte sein schlechter