Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
die Kippe in die Schlucht unter uns. Ich fragte mich, ob wir je wieder einen Joint zusammen rauchen würden. Da mir nichts anderes übrig blieb, ging ich nach unten und verließ, eine Begegnung mit Ma Dukes vermeidend, das Haus. Nach dem heutigen Tag würde sie wahrscheinlich nicht mehr so erpicht darauf sein, eine Gefährtin für mich zu finden.
Damit hatte ich wohl eine weitere Brücke hinter mir abgebrochen.
26
Ich ging zum Torkelnden Grafen zurück und verbrachte den Rest des Nachmittags damit, mich richtig auszuschlafen. Gegen sechs brach ich dann auf, nachdem ich Zeisig unter irgendeinem windigen Vorwand losgeschickt hatte, um zu verhindern, dass er mir folgte. Meine letzte Begegnung mit Crispin war in einer derart feindseligen und gleichzeitig sehr persönlichen Atmosphäre verlaufen, dass Zuhörer fehl am Platz gewesen wären. Und ich hielt es für wahrscheinlich, dass sich dieses Treffen ähnlich entwickelte, zumal Crispin vermutlich von mir erwartete, dass ich im Austausch für das, was er entdeckt hatte, vor ihm zu Kreuze kroch. Und beim Schwurhalter, das hätte ich wohl auch getan.
Der halbstündige Gang durch die Abenddämmerung in Richtung Herm-Brücke bescherte mir einen seltenen Moment innerer Ruhe. Es war die Zeit des Jahres, da es sich lohnt, jeden Sonnenstrahl und jedes warme Lüftchen auszukosten, denn bald würde mit unerbittlicher Macht der Winter über uns hereinbrechen. Für ein paar Minuten gelang es mir, die Ereignisse der letzten zwei Tage halbwegs zu vergessen.
Vermutlich liegt es in der Natur von Träumereien, dass sie abrupt enden.
Eine Leiche ist etwas Unverwechselbares, und trotz der zunehmenden Dunkelheit war ich mir sicher, dass es Crispin war, der da am Fuße der Brücke lag. Ich setzte mich in Trab, obwohl ich schon wusste, dass das sinnlos war, dass das, was über Crispin hergefallen war, ihn nicht nur verletzt hatte.
Er war entsetzlich zugerichtet worden, sein fein geschnittenes Gesicht zerschlagen und voll blauer Flecken, seine Adlernase mit Blut und Eiter verkrustet. Sein eines Auge war geplatzt und ausgelaufen. Sein Gesicht war zu einer grässlichen Grimasse verzerrt, und vor Schmerz und Qual hatte er sich fast die Wange durchgebissen.
Es war dunkel, aber nicht stockfinster, und die Herm-Brücke ist keine entlegene Gasse, sondern eine Durchgangsstraße. Es würde nicht lange dauern, bis jemand anders die Leiche entdeckte. Ich kniete mich neben Crispin und versuchte, nicht daran zu denken, wie er mich einmal zum Mittwinterfest in sein Haus eingeladen hatte. Seine exzentrische Mutter und seine unverheiratete Schwester hatten Klavier gespielt, und wir alle hatten Rumpunsch getrunken, bis ich am Feuer eingeschlafen war. Ich griff in seine Manteltasche. Nichts. Rasch durchsuchte ich den Rest seiner Kleidung, ebenfalls ohne Erfolg. Ich redete mir ein, dass ich mir den Gestank nur einbildete, dass er noch nicht lange genug tot sein konnte, um schon zu verwesen, dass die Kälte ihn ohnehin eine Weile konservieren würde, und konzentrierte mich auf meine Aufgabe. So hätte er es auch gemacht – ganz nach Vorschrift.
Schließlich kam ich auf die glänzende Idee, seine Hände zu überprüfen. Nachdem es mir gelungen war, die verkrampften Finger auseinanderzubiegen, entdeckte ich die zerknüllte, abgerissene obere Hälfte eines Blatts Papier.
Es handelte sich um ein Regierungsdokument. Oben auf dem Blatt prangte irgendein Aktenzeichen, dem der Hinweis folgte, dass es Unbefugten verboten sei, das Dokument einzusehen. Darunter fand sich unter der Überschrift Magier, Operation Vorstoß eine Liste von Namen, die mit dem jeweiligen Status gekennzeichnet waren: Aktiv, Inaktiv, Verstorben . Es überraschte mich in keiner Weise, dass sehr viele Namen in die dritte Kategorie fielen. Als ich die Liste überflog, stockte mir plötzlich das Herz – der letzte Name, unmittelbar über dem Riss, lautete Johnathan Brigthfellow.
Dann steckte Beaconfield also doch hinter allem. Mein Verdacht hatte sich bestätigt. Und einen hohen Preis gekostet. Einen sehr hohen.
Dann tat ich – fast ohne nachzudenken – etwas, das billig und mies und nur zum Teil durch Notwendigkeit gerechtfertigt war. Ich griff nach Crispins Hals, riss ihm das Auge der Krone ab und steckte es in meine Tasche. Die eiskalten Teufel würden annehmen, dass sein Mörder es an sich genommen hatte, und ich hatte das Gefühl, dass es mir irgendwann nützlich sein könnte, auch wenn ich noch nicht wusste, auf welche Weise.
Ich
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