Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
können.« Als ich mir den Satz zurechtgelegt hatte, hatte er nicht so kindisch geklungen wie jetzt, da ich ihn aussprach.
Langsam hob sie den Blick und sah mich an. Dann wandte sie sich ab und murmelte: »Sie haben einen Ermittlungsbeamten hergeschickt. Er hat mich über Avraham ausgefragt und meine Aussage aufgenommen.«
»Die eiskalten Teufel tun, was sie können. Aber ihnen kommt nicht das zu Ohren, was mir zu Ohren kommt. Außerdem hören sie oft gar nicht zu.« Viel mehr konnte ich zugunsten des Schwarzen Hauses nicht sagen. »Ich versuche herauszufinden, ob es zwischen Avraham und den anderen Kindern eine Verbindung gibt, etwas an ihm, das herausragte, etwas Einzigartiges …« Ich verstummte.
»Er ist sehr still«, antwortete sie. »Er redet nicht viel, ganz im Gegensatz zu den Mädchen. An manchen Tagen wacht er früh auf und hilft mir bei der Wäsche. Er ist gern vor allen anderen auf. Sagt, das helfe ihm, die Dinge besser zu hören.« Sie schüttelte den Kopf, sodass sich die farbigen Glasperlen, die in ihr Haar geflochten waren, hin und her bewegten. »Er ist mein Sohn. Was soll ich da sagen?«
Eine angemessene Antwort. Nur ein Narr würde eine Mutter fragen, was ihr Kind zu etwas Besonderem machte. Aus ihrer Sicht war jede Sommersprosse in seinem Gesicht etwas Besonderes, aber das würde mir nicht weiterhelfen. »Tut mir leid, das war taktlos von mir. Aber ich muss dahinterkommen, warum Avraham …«, es war schwer abzuschätzen, welcher verwaschenen euphemistischen Formulierung ich mich hier bedienen sollte, »… warum Avraham verschwunden ist.«
Sie setzte an, etwas zu sagen, schluckte die Worte jedoch hinunter.
Ich hakte mit allem mir zu Gebote stehenden Geschick nach. »Du wolltest etwas sagen. Was war es?«
»Nichts Wichtiges. Es hat nichts mit alldem zu tun.«
»Manchmal wissen wir mehr, als wir annehmen. Warum verrätst du mir nicht, was du sagen wolltest?«
Ihr Körper schien sich mit jedem Atemzug auszudehnen und wieder zusammenzuziehen, als sei es einzig und allein die Luft in ihren Lungen, die sie aufrecht hielt. »Manchmal weiß er Dinge, die er gar nicht wissen kann, Dinge über seinen Daddy und andere Sachen, die ich ihm nie erzählt habe, Dinge, die ihm niemand hätte erzählen können. Wenn ich ihn frage, woher er das weiß, lächelt er nur ganz seltsam und … und …« Sie verlor völlig die Selbstbeherrschung, die sie bisher an den Tag gelegt hatte, vergrub das Gesicht in den Händen und heulte mit der ganzen Kraft ihres matronenhaften Körpers los. Ich überlegte, wie ich sie beruhigen könnte, aber mir fiel nichts ein – Einfühlungsvermögen war noch nie meine starke Seite.
»Du wirst ihn doch retten, nicht wahr? Die Stadtwache ist unfähig, aber du wirst ihn zu mir zurückbringen, nicht wahr?« Sie umklammerte mein Handgelenk. »Ich gebe dir alles, was du willst, alles Geld, was ich habe, aber bitte finde meinen Jungen!«
Behutsam löste ich ihre Finger von meinem Handgelenk. Ich brachte es einfach nicht über mich, einer Mutter zu sagen, dass sie ihr Kind nicht lebend wiedersehen würde – aber ich wollte sie auch nicht anlügen, ihr kein Versprechen geben, das ich nicht würde einlösen können. »Ich werde mein Möglichstes tun.«
Meskie war nicht dumm. Sie wusste, was das bedeutete. Sie legte die Hände in den Schoß und riss sich mit aller Kraft zusammen. »Natürlich«, sagte sie, »verstehe.« Ihr Gesicht strahlte jene schreckliche Ruhe aus, die sich einstellt, wenn alle Hoffnung begraben ist. »Jetzt liegt sein Leben in Sakras Händen.«
»Wie das von uns allen«, erwiderte ich, obwohl ich der Meinung war, dass dem armen Avraham das ebenso wenig helfen würde wie uns Übrigen. Ich spielte mit dem Gedanken, ihr etwas Geld dazulassen, wollte sie aber nicht beleidigen. Adeline würde ihr später etwas zu essen bringen, obwohl das nicht nötig war. Die Eiländer hielten fest zusammen, sodass Meskie gut versorgt sein würde.
Draußen wartete Zeisig auf mich, inmitten von Meskies Töchtern, die entgegen der Aussage ihrer Mutter sehr still waren. »Wir müssen los.«
Zeisig wandte sich den Mädchen zu. »Tut mir leid, das alles«, sagte er. Wahrscheinlich war es das Erste, was er sagte, seit ich ihn verlassen hatte.
Die Jüngste brach in Tränen aus und rannte ins Haus.
Zeisig errötete und fing an, sich zu entschuldigen, doch als ich ihm die Hand auf die Schulter legte, verstummte er. Wir gingen zum Torkelnden Grafen zurück, wie gewöhnlich schweigend,
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