Der Herr der Welt
verblaßt, als hätte sie es nur geträumt, und immer mehr der Bilder erloschen aus ihrem Gedächtnis.
»Warum bist du hier?« fragte sie.
Landru gab einen Laut von sich, der ein trockenes Lachen sein sollte, sich aber aus seiner Kehle gespenstisch anhörte.
»Ich dachte, es hätte sich draußen herumgesprochen«, sagte er. »Anum hat gesiegt. Er hat uns alle besiegt. Es war ein Fehler, daß wir uns nicht gegen ihn verbündeten, daß wir jeder für sich unsere kleinen, eigennützigen Ziele verfolgten. So konnte er all seine Pläne wahrmachen - bis auf einen. Es gibt kaum mehr echte Vampire - außer einigen wenigen Statthaltern in den größten Metropolen. Der Lilienkelch ist auf ewig verloren. Aber dafür hat er sich eine Armee von Kreaturen geschaffen.«
Nona nickte. »Seine Dienerkreaturen durchstreifen die Straßen und verbreiten Anarchie und Chaos.«
»Anum hat noch weitere Verbündete«, ergänzte Landru. »Er züchtet sie heran - auf Friedhöfen wie diesen.«
»Wir haben einige seiner Helfer kennengelernt«, sagte Nona. Dann konzentrierte sie sich wieder auf die Gegenwart. »Wie kann ich dir helfen?«
Er sah sie erstaunt an. »Du?« Abermals entrang sich seiner Kehle dieser fürchterliche Laut, der ein Lachen war, aber sich wie das Räuspern eines Toten anhörte.
Nona wußte nicht, wie er es meinte. Traute er ihr nicht? Oder hielt er sie für zu schwach? Trotzig entgegnete sie: »Ja, ich! Weil ich glaube, daß du der einzige bist, der Anums Herrschaft etwas entgegensetzen kann!«
Ungläubig starrte er sie an. »Du weißt nicht, was Anum mit mir gemacht hat, Nona. Er hat mich zerbrochen. Ich bin nur noch ein Schatten. Anum läßt mich büßen. Mein Leben ist alles, was er mir gelassen hat. Es wird der Tag kommen, an dem er auch darauf verzichten wird. Ich werde diesen Tag bejubeln .«
»Warum hat er dich hier gefesselt?« fragte Nona. »Was hat er vor?«
»Ein grausames Spiel, mehr nicht. Wenn es ihm danach gelüstet, erscheint er hier und weidet sich an meinem Anblick.«
»Und die Gräber dort draußen? Was haben sie zu bedeuten? Überall sind Statuen vor dir zu finden«, sagte Nona.
»Ich weiß. Deshalb wird Anum irgendwann ganz auf mich verzichten können. In den Gräbern wachsen meine Ebenbilder heran. Mit dem Unterschied, daß sie Anum bedingungslos gehorchen werden. Es wird sein letzter Triumph über mich sein. Und sein größter!«
Landrus Körper sackte zusammen. Wahrscheinlich hatte ihn das Gespräch zu sehr erschöpft.
»Landru!« rief Nona, aber der Gemarterte antworte nicht.
»Wir müssen von hier verschwinden«, drängte Kierszan. Unbehaglich sah er sich um. All seine Sinne waren bis zum Äußersten intensiviert. Er spürte die Gefahr.
»Es muß doch eine Möglichkeit geben, Landru zu helfen!« sagte Nona. Sie fühlte sich entsetzlich machtlos. »Du mußt es zumindest versuchen, uns dort hineinzubringen!«
»Es würde unser Verderben sein. Vertrau meinem Instinkt.«
Nona gab sich geschlagen. Sie hatte keine andere Wahl, als Kiers-zan zu glauben. Wenngleich sie immer mehr den Verdacht hegte, daß ihr Begleiter einfach nur Angst hatte. War das noch der Kierszan, den sie begehrt hatte?
Plötzlich spürte sie einen schmerzhaften Stich in der Magengrube. Aufschreiend krümmte sie sich zusammen.
»Nona, was ist los?« fragte Kierszan. Er hielt sie an den Schultern.
Nona schrie auf. Der Schmerz wurde mit jeder Sekunde stärker. Sie sank auf die Knie.
»Keine ... Ahnung, was es ist!« flüsterte sie unter Schmerzen.
Und dann vernahm sie den Ruf. Er erklang in ihren innersten Gedanken. Die Schmerzen traten dahinter zurück.
Nona! Komm!
Sie wußte sofort, wer es war. Nie würde sie diese Stimme vergessen.
»Lilith?« flüsterte sie. »Wo bist du?«
Da, wo du mich zuletzt gesehen hast. Es wird Zeit, daß wir miteinander sprechen.
»Und Anum?«
Er ist mit anderen Dingen beschäftigt. Die Gelegenheit ist günstig!
»Mit wem sprichst du?« fragte Kierszan. Nona brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
Wir haben versucht, dich wiederzufinden, formulierte Nona in ihren Gedanken. Du mußt uns helfen, von hier fortzukommen! Sie zweifelte daran, daß es ihr und Kierszan ohne fremde Hilfe gelingen würde, noch einmal jenen Raum zu finden, in der sie Lilith und Anum bei ihrem bizarren Liebesspiel zugesehen hatten.
Folge einfach deinem Schmerz! sagte die Stimme in ihren Gedanken. Er wird dich zu mir führen!
Nona war irritiert. Was meinst du damit? Irrte sie sich, oder hatte sie
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