Der Herr der Welt
zu bedeuten?« fragte Nona verwirrt. Sie spürte, wie ihr Verstand sich allmählich zu weigern begann, dies alles noch weiter zu interpretieren. Es wäre viel einfacher, nichts mehr zu hinterfragen und sich wie eine Wolke im Wind treiben zu lassen.
Zugleich wußte sie, daß dies der Anfang vom Ende wäre. Sie mußte sich dagegen stemmen. Sie mußte Anums magische Rätsel lösen.
»Wenn es real ist, was wir sehen, und dies hier wirklich Gräber sind, dann ist Landru in allen von ihnen verteilt«, dachte sie laut.
»Vielleicht wächst er auch zu etwas Neuem heran«, ergänzte Kierszan. »Wie die anderen Untoten, die auf uns scharf waren!«
»Du meinst, unzählige neue Landrus? Warum sollte Anum so etwas tun?«
Kierszan zuckte mit den Schultern. »Wir sollten sehen, daß wir von hier fortkommen. Ich fühle mich von Minute zu Minute unwohler .«
Sie gingen weiter, immer darauf gefaßt, wieder den Untoten zu begegnen. Auch dieser Teil des Friedhofs schien endlos. Die Gräber mit den Landru-Statuen reihten sich aneinander.
»Dort oben!« rief Kierszan plötzlich und zeigt voraus. Auf einer kleinen Anhöhe befand sich ein seltsames Gebäude. Ein schwacher rötlicher Lichtschein drang aus den schmalen, hohen Fenstern nach draußen.
Nona und Kierszan schlichen näher. Das Gebäude wirkte wie ein Mausoleum. Es war aus schwarzem Granit erbaut, so schwarz, daß jegliches Licht davon verschluckt wurde. Der herausdringende rote Schein machte den Anblick noch unwirklicher.
Nona erreichte das Gebäude als erste. Vorsichtig spähte sie durch eines der schießschartenartigen Fenster. Der Anblick ließ ihren Atem stocken.
Landru!
Sie hatte ihn gefunden!
*
Rasch winkte sie Kierszan heran. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und schaute über ihre Schulter.
»Der Mann, der in all den Statuen abgebildet ist«, flüsterte er. »Es ist Landru, nicht wahr?«
Nona nickte. »Du hast uns an den richtigen Platz geführt«, sagte sie leise. Dabei konnte sie kaum glauben, daß es wirklich Landru war. Aber die Gesichtszüge waren unverkennbar.
Der Mann dort drinnen war auf perfide Art gefesselt. Stählerne Trosse gingen von seinen Armen und Beinen aus bis zur Decke und hielten so den ganzen Körper in einer halb geduckten, halb hängenden Stellung. Jeder normale Mensch hätte diese Tortur nur wenige Minuten ertragen. Landru mußte seit Ewigkeiten in dieser Stellung ausgeharrt haben. Seine Augen waren geschlossen, aber er war nicht tot. Es sah aus, als würde er nur kurz ruhen.
Seine einstmals stolzen Gesichtszüge waren denen auf den Statuen gewichen. Furcht hatte sich in ihnen eingegraben.
Langsam gingen Nona und Kierszan um das merkwürdige Gebäude herum. Es bestand nur aus dem einen Raum. Von jedem Fenster aus konnte man auf den gefesselten Landru blicken.
»Es gibt keinen Eingang!« stellte Kierszan fest, nachdem sie den schwarzen Block umrundet hatten. »Und die Fenster sind viel zu schmal, als daß wir hinein könnten.«
Nona sah ihn fordernd an. »Und was ist mit deinen besonderen Kräften? Damit wäre es uns ein Leichtes.«
Kierszan schüttelte den Kopf. »Dieser Raum gefällt mir nicht. Ich spüre, daß irgendeine Gefahr von ihm ausgeht. Was, wenn meine Kräfte dort drinnen versagen? Wir wären auf ewig eingesperrt. Wie er!«
In diesem Augenblick öffnete Landru die Augen. Er schaute direkt in Nonas Gesicht. Sie wollte sich instinktiv ducken, aber es war zu spät. Er hielt ihren Blick bereits gefangen. Erkennen breitete sich in seinen Augen auf. Nona glaubte, so etwas wie Hoffnung in ihnen aufkeimen zu sehen.
Sie hielt seinem Blick stand.
»Nona?« Seine Stimme klang so brüchig wie die eines Sterbenden. Sie erinnerte sie an die Stimme der Toten. An welkes Laub, das, von einem kalten Herbsthauch getrieben, über den Boden raschelte.
Ein paar Sekunden lang war sie unfähig zu antworten. Sie schaute in das müde, ausgemergelte Gesicht ihres Geliebten und versuchte sich nicht wieder von ihren Gefühlen und den Bildern der Vergangenheit überwältigen zu lassen.
»Ja, ich bin es«, sagte sie dann.»Ich habe dich gesucht, Landru.«
Er kniff die Augen zusammen und fixierte sie.
»Es ist lange her«, sagte er. »Du bist irgendwann einfach verschwunden. Niemand wußte, was mit dir passiert war .«
Nona schauderte. Bedeutete dies, daß sie tatsächlich all die Jahre in Chiyodas Obhut geschlafen hatte? Daß dies wirklich die Realität war?
Die Erinnerung an ihr altes Leben in der Vergangenheit war bereits merkwürdig
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