Der Herr der zerstörten Seelen
genau wie das Attentat auf Reagan, dem er sogar eine Warnung hatte zugehen lassen, die die Holzköpfe vom FBI natürlich in den Papierkorb warfen. Aber alles ist dokumentiert, Paul, alles … Er wußte, daß sie einen Polen zum Papst wählen, daß sich in Guayana tausend Sektenverrückte umbringen, er wußte alles, wußte es immer … Nun stellen Sie sich doch mal vor, Arjun sagt Ihnen die Börsenkurse voraus. Das wäre doch ein Ding …«
Paul Legrand lächelte pflichtschuldig. »Arjun?«
»Arjun Williams. Die Mutter des Jungen ist komischerweise Inderin. Der Vater aber, Bob Williams, ist Herzspezialist. Arbeitet in Salt Lake City, ein internationales Aß …«
Und das Beste daran: Bob Williams sei clever genug, die Talente seines Sohnes einzusetzen. Was nämlich OP-Komplikationen und Erfolgserwartungen angehe, würden die Voraussagungen seines Sohnes fast immer zutreffen. »Williams war vorher schon Weltspitze. Aber damit hat er eine fast unschlagbare Erfolgsquote.«
Ob der Sohn auch Arzt werden wolle?
»Arjun? O nein. Der beschäftigt sich ausschließlich mit religiösen Dingen.«
Auch das noch! dachte Legrand. Na, von mir aus …
»Amtskirche! Die Kirche von Gottes Gnaden! Das ist die Vernichtung Hunderter von Millionen Menschen anderer Hautfarbe, das ist die Vernichtung ganzer Völker und ihrer Kultur, das ist die Vernichtung von Hexen, Ketzern, ob sie nun Lutheraner, Baptisten oder Hugenotten heißen, das ist die Leugnung der überlebensnotwendigen Aufgaben, die vor uns stehen – und das alles im Namen Jesu Christi!«
Schon im Korridor klang Legrand dies entgegen. Wie immer war er etwas zu spät. Er hatte sich von Meuniers Dienstmädchen den Schal abnehmen lassen, war an dem in der Halle aufgestellten kalten Büfett vorbeimarschiert, den geöffneten Flügeltüren des Salons entgegen, doch nun blieb er stehen. Was sollte das?
Der Hellseher?
Auf Zehenspitzen ging Legrand näher. Im Schatten der Tür verhielt er wieder. Gut, alles war wie immer. Oder wie meist: Altherrengesichter, kunstvoll aufgetürmte, bläulich getönte Damenfrisuren, Schmuck und zierlich goldene Stühlchen.
Nur, daß der Kerl, der dort in tadellosem Englisch die Kirche verfluchte, um nichts in der Welt ins Bild passen wollte. Und wie sollte er das? In diesem Aufzug! In schmutzigen Jeans, ausgetretenen Turnlatschen, in diesem unmöglichen braun-gelben Holzfäller- oder Cowboyhemd? Meuniers Entdeckung? Ein schreiender Cowboy aus Utah mit schwarzen Kohlenaugen und Schmachtlocken? Ein Hellseher? Dann eher schon ein Wanderprediger …
Gerade in diesem Augenblick warf der Kerl Legrand einen langen durchdringenden Blick zu.
Paul setzte sich hastig.
»Doch die Menschen haben genug. Sie rennen den Kirchen davon … Und wohin rennen sie? Sie werfen sich dem Materialismus in die Arme!«
Der Kerl machte zwei riesige Schritte, beinahe Sätze, dann eine fast tänzerische Drehung und stand nun zwischen all den goldenen Stühlchen, drehte den Kopf ganz langsam und hob beschwörend die Hände. »Wo ist die Wahrheit der Bergpredigt geblieben? Wo sind Jesu Worte: Leben ist Liebe? Aus Liebe haben die Kirchen ein Instrument der Unterdrückung gemacht. Sie haben die Liebe zur Sünde erklärt, die Erlösung braucht … Aber das ist nicht wahr. Nicht Sünde, nicht Erlösung, im Miteinandersein, im Annehmen des Nächsten und seiner Sünde, in der Liebe liegt der Weg …«
Diese Stimme! Ganz leise war sie nun, nicht mehr wie die Peitsche von zuvor.
Legrand schloß die Augen. Die Worte hallten in seinem Schädel.
Im Annehmen der Sünde liegt der Weg … War gar nicht so dumm. War, als wäre es für ihn gesprochen. War sogar ein guter Gedanke, war der Gedanke überhaupt!
Legrand bog den Kopf zurück. Steht direkt vor dir, der Kerl. Und wie er dich anstarrt. Die Mutter soll Inderin sein, hatte Meunier gesagt. Ganz egal, was sie war, aber einen Blick hatte der vielleicht … Und was sagte er jetzt?
»Liebe bedeutet immer ein Weiter, heißt Höherentwicklung und damit Evolution. Wer diese Wahrheit vergißt, geht dem Untergang zu und verliert seine Zukunft. Ich kenne diese Zukunft, meine Freunde. Und ich sage Ihnen, sie wird nicht nur schwierig, sie wird schrecklich sein …«
Den Job als Maître im Circel hatte Philip Tannert seit fünfzehn Jahren. Das Wundern hatte er sich längst abgeschminkt, die Augenbrauen zog er auch nicht mehr hoch. Doch an diesem Vormittag, als er sah, wie diese Studententype da einfach durch den Eingang latschte, blieb ihm
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