Der Herr der zerstörten Seelen
einem unternehmerisch so kreativen Geist wie Legrand konnte man darüber hinwegsehen.
Kreativ, das war er ganz besonders in dieser Zeit, anfangs der achtziger Jahre. Die ›Gruppe Legrand‹ erfuhr einen geradezu phantastischen Aufschwung. Zu den bisherigen Bereichen kamen Hotel- und Warenhausketten hinzu. Bald kaufte Legrand nicht nur ganze Fluglinien auf, sondern richtete auch die entsprechenden Service-Stationen ein, die er dann durch den Bau von Flughäfen erweiterte. Raffinerien oder Schürfrechte – überall mischten er oder die mit ihm assoziierten Investoren mit. Es gab zwar auch Rückschläge und Krisen, doch nichts schien den stetigen Aufwärtstrend stoppen zu können. Ob bei den Investitionen oder an der Börse, Legrand scheffelte Geld. Er war zu einer Art Schweizer König Midas geworden.
Wohin aber all diese Summen gingen, wo die Überschüsse versickerten, das wußte niemand.
Er selbst ließ sich in Genf kaum mehr sehen. Eines Tages rollten am Quai Gustave Schaufelbagger an und tilgten die alte ehrwürdige Villa ›Repos‹ vom Erdboden. Im Park wurde ein modernes Gebäude aus Stahl und Glas errichtet, in das bald darauf die Verwaltung einer religiösen Organisation einzog, die sich ›GW‹ – Gottes Welt – nannte. Fünf Jahre später entstand ein ähnlicher Bau im nahen Lausanne, in dem dann die Bibliothek und das Archiv der GW untergebracht wurde.
Legrand aber blieb verschwunden.
Er lebe nur noch auf See, hieß es in Genf, reise um die Welt, wohne auf einer riesigen modernen Super-Yacht, von wo er, gleich einer Art ›fliegendem Holländer‹, seine Geschäfte leite …
Das Schloß! Mit strahlendem Gold überschüttete die Sonne die Fenster von Schönberg. Auch das Dach wechselte seine Farbe zu einem feucht glänzenden, wunderschönen Rosa, und vor dem Portal wehte die Fahne mit dem blauen GW auf weißem Grund.
Nachts war das Schloß nichts als ein leerer schwarzer Kasten. Nachts flog die Erinnerung heran und machte aus Katis Bildern Alpträume, nachts sah sie wieder das Gesicht ihrer Mutter am Haupttor, hörte ihr flehendes, bettelndes: »Wir müssen doch miteinander reden …«
Und nachts war auch das ›Nest‹, war ganz Schönberg nichts als ein verlassenes, dunkles Schiff, das im Sturm trieb … Kati dachte an Toni und hatte doch niemanden, mit dem sie sprechen konnte. Doch, Tennhaff … Er und du, dachte sie, wir sind die einzigen an Bord. Und manchmal ist es, als seien wir die einzigen Menschen überhaupt.
In der Nacht, als sie vom Garagenbau aus beobachteten, wie Dos Wagen wegfuhr und Kati die Nerven verlor, da hatte Tennhaff sie in die Arme genommen, und sie hatte geheult wie ein Schloßhund …
Wieder saß Kati im Pavillon.
Reto, ihr Instrukteur und ›Begleiter‹, war nichts als ein flüsternder Schatten. Vor ihr aber, auf dem riesengroßen Fernsehschirm glitten die Bilder vorüber, eines irgendwie mit dem anderen verwoben, schöne Bilder, Pflanzen, Tiergesichter, Strände, das Meer. Wunderschöne, paradiesische Landschaften, so paradiesisch und beruhigend friedlich wie die Musik, die sie begleitete.
Ein neuer Schnitt.
Die Musik brach ab. Kati sah Tannen, die ihre Schatten auf eine Terrasse warfen. Es war eine große Terrasse, und sie kannte dort jeden Stein. Sie kannte auch das Haus, das sich nun ins Bild schob, und die beiden Menschen: Der Mann war Jan, ihr Vater. Er war braungebrannt, und der Wind riß ihm die Haare hoch. Er lachte. Er sah hinreißend und komisch zugleich aus, und er hatte die Hand auf der Schulter eines Mädchens …
Wo hatten sie bloß das Video her?
Und die anderen Videos, die man Kati in früheren Sitzungen gezeigt hatte? Und von welcher Stelle im Garten waren sie aufgenommen?
Wieder ein Wechsel …
Katis Herz schlug schneller.
Do. Do in einem tiefgrünen schimmernden Abendkleid. Sie stand zwischen weißen Hemdbrüsten, Smokingschleifen, Uniformen und Orden. Eine Do, die so gelassen und selbstbewußt in die Kamera blickte, als sei sie die Gastgeberin dieses Staatsempfangs.
Woher? wollte Kati fragen. Ihre Lippen blieben trocken und stumm.
»Was empfindest du beim Anblick deiner Mutter?« fragte der Schatten hinter ihr.
»Nichts.«
»Wirklich nichts?«
»Nichts«, sagte sie. Und es stimmte. Es war ihr, als werde jede Empfindung durch einen schwammigen, tiefen Filter geleitet und ausgelöscht.
Auf dem Bildschirm saß Mami jetzt an irgendeinem Tisch, das Kinn in die Hand gestützt, und sah Kati an. Da waren die beiden Falten über der Nase,
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