Der Herr vom Rabengipfel
Christengott niemals dienen würde.
Eine weitere Stunde ritten sie am Ufer des Seineflusses entlang, ohne von Wegelagerern behelligt zu werden.
Einer der Soldaten streckte den Arm aus und wies auf eine Hügelkuppe. Dort stand ein windschiefes Holzhaus, aus dessen Dach eine dünne Rauchfahne aufstieg. Vor der Hütte war ein Pferd angebunden.
»Ich sehe Onkel Rollos Pferd nirgends, Rognvald. Wo mag Njaal sein?« Laren wandte sich an Merrik. »Njaal ist ein sehr großer Hengst, siebzehn Handbreit hoch. Das einzige Pferd, das mein Onkel reiten kann, ohne daß seine Füße auf der Erde schleifen.«
»Nun, Rognvald?« Merriks Hand näherte sich dem Schwertgriff.
Rognvalds Gesicht verfinsterte sich. Dann plötzlich rief er erleichtert: »Da steht er. Dort drüben unter der Eiche. Ja, es ist Njaal.«
»Komm, Merrik«, sagte Laren munter. »Wir wollen uns diesen Zauberer ansehen.«
Sie stieg vom Pferd und eilte auf die Tür der Hütte zu. Merrik unterließ es, ihr eine Warnung zuzurufen. Auch er stieg vom Pferd, warf einem Soldaten die Zügel zu und folgte Laren. Im Eingang mußte er den Kopf einziehen, um sich nicht an dem rußgeschwärzten Querbalken zu stoßen. Es dauerte eine Weile, bis seine Augen sich an das Dunkel der armseligen Behausung gewöhnt hatten, in der es nach verdorbenem Essen, Schweiß und dem Kot von Haustieren stank. An einer Feuerstelle in der Mitte des winzigen Raumes saß ein alter Mann mit einem langen, weißen Bart, der ein erstaunlich sauberes, weißes Gewand trug. Bei Merriks Eintritt hob der Alte den Kopf.
»Du bist Larens Gemahl«, begrüßte er die Ankömmlinge.
»Ja, ich bin Merrik Haraldsson aus Malverne.«
»In Vestfold«, sagte der alte Mann leise und stocherte mit einem Stecken in der Glut. »Ein schönes Land, dieses Vestfold. Harald Schönhaar wird dort noch lange regieren. Ihm ist wie Rollo ein langes Leben beschert. Wußtest du das, Wikinger?«
»Daran habe ich nie gezweifelt, alter Mann.«
»Du hast dir eine Ehefrau aus edlem Geschlecht genommen«, fuhr der Greis fort, ohne Laren zu beachten, die den Alten fasziniert ansah. Merrik trat einen Schritt näher, doch der alte Mann hob abwehrend die Hand.
»Bleib, wo du bist, Wikinger. Störe nicht die Glut. Die Flammen, die an den Zweigen hochzüngeln, verkünden mir die Zukunft.«
Unbeirrt trat Merrik näher. »Dann kannst du mir sicher auch sagen, wo Rollo ist.«
»Er kam und ging dann wieder.«
»Sein Pferd steht unter der Eiche.«
»Er wollte im Fluß schwimmen. Ich gab ihm eine Salbe für seine schmerzenden Gelenke, die nach geraumer Zeit wieder abgewaschen werden muß. Er ist unten am Fluß.«
»Sag mir, wer du bist.«
»Ich?« Der alte Mann blickte mit seinen lebhaften, dunklen Augen Merrik ins Gesicht. »Du vertraust mir nicht«, schmunzelte er. »Das nehme ich dir nicht übel, Wikinger. Deine Frau traut mir auch nicht; sie zeigt es nur weniger deutlich. Sie beobachtet mich genau, und ich bin sicher, daß sie ein Messer in den Falten ihres Kleides verbirgt.«
»Ganz recht«, entgegnete Laren kalt und hob die Hand, in der sie ein langes Messer mit schmaler Klinge hielt, dessen Griff aus kunstvoll geschnitztem Elfenbein bestand. Merrik hatte nie zuvor ein Messer bei Laren gesehen. »Wenn Ihr es wagt, meinen Gemahl anzugreifen, töte ich Euch.«
Merrik blickte sie fassungslos an. Er hatte nicht vermutet, daß ihr Mißtrauen so tief wurzelte. Er hatte sie unterschätzt und schwor sich, diesen Fehler kein zweites Mal zu begehen. Er trat an ihre Seite.
»Sie trägt dein Kind.« Der Alte schien von ihrer Drohung keineswegs beeindruckt. »Ja, in der Hand trägt sie ein Messer und im Bauch dein Kind. Du bist stark geworden, Laren, und du weißt, was Treue heißt. Rollo sagte mir, daß Taby am Leben ist. Er war ein schönes Kind, wohlgenährt und vergnügt. Er lächelte gern und zeigte seinen zahnlosen Gaumen. Ich habe ihn abgöttisch geliebt. Ständig reckte er mir die Ärmchen entgegen. Ich war vernarrt in ihn. Doch dann wandte sich alles zum Bösen, und ich mußte fliehen. Diese Verkleidung war Rollos Vorschlag.«
Laren war plötzlich sehr still geworden. Merrik sah, wie sie erbleichte und legte seinen Arm um sie. »Fühlst du dich nicht wohl?«
»Es ist nichts«, antwortete sie, ohne den alten Mann aus den Augen zu lassen.
Der Greis erhob sich von dem Hocker und glättete die Falten seiner weißen Kutte.
Laren fragte sehr leise: »Bist du es wirklich?«
Merrik blickte von ihr zu dem Alten. »Was meinst du,
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