Der Herr vom Rabengipfel
Liebste?«
»Er ist mein Vater«, antwortete sie, streifte Merriks Arm von ihrer Schulter und ging um die Feuerstelle auf den alten Mann zu, der sehr aufrecht dastand und nun gar nicht mehr alt wirkte.
»Ja, Tochter. Ich bin es.«
Schluchzend warf sie sich in seine Arme. »Ich wäre vor Kummer fast gestorben, als du verschwunden bist. Erst Mutter, dann du.«
»Ich weiß, ich weiß.« Hallad hielt sie umfangen und streichelte ihr Haar. Über ihren Kopf hinweg blickte er zu Merrik. »Ich mußte sie sehen und auch dich, Merrik Haraldsson. Du mißtraust mir nicht weniger als Laren mir mißtraute. Warum?«
»Weil wir immer noch nicht wissen, wer Tabys und ihre Entführung auf dem Gewissen hat«, antwortete Merrik. »Ich hielt es für eine List, uns beide von der Burg wegzulocken. Wißt Ihr, daß Fromm ermordet wurde? Und daß ich nachts überfallen wurde?«
Aus einer dunklen Ecke der Hütte hörten sie eine tiefe Stimme, die sagte: »Ja, ich habe ihm davon berichtet.«
Rollo trat mit verschlossenem Gesicht auf die Gruppe zu. Jede Spur des nörgelnden Greises war von ihm abgefallen. Jetzt glich er wieder dem sagenumwobenen Rollo, dem gefürchteten Krieger und dem treuen und vertrauensvollen Freund, den Merrik bei seiner Ankunft kennengelernt hatte.
»Das ist keine Falle, Merrik. Hallad wollte dich kennenlernen und seine Tochter in die Arme schließen. Ich habe ihm versprochen, daß wir mit deiner Hilfe herausfinden werden, wer seine Gemahlin, Larens Mutter getötet hat. Ich habe Nirea nicht getötet, und ich war auch nicht ihr Liebhaber, wie man euch einzureden versuchte. Hallad wurde beschuldigt, sie getötet zu haben, und ich durfte nicht zulassen, daß er für eine Tat, die er nicht begangen hatte, mit dem Tod bestraft wurde. Er floh und verbarg sich. Vor zwei Jahren, kurz vor der Entführung, tauchte er als alter Zauberer hier auf und bezog diese Hütte, um mir weiszusagen und als Ratgeber zu dienen. Hallad benutzt diesen elenden Stall nur gelegentlich. Eigentlich lebt er als frommer Mönch im Kloster der Heiligen Katharina. Ihr seid daran vorbeigeritten. Bisher ist uns niemand auf die Schliche gekommen. Zeig dich deiner Tochter, Hallad. Ich sorge dafür, daß keiner der Soldaten hereinplatzt.«
Hallad schob Laren ein wenig von sich und nahm die weiße Perücke und den grauen Bart ab.
Ein voller, von einzelnen grauen Strähnen durchzogener, roter Haarschopf kam zum Vorschein und ebenso ein gutgeschnittenes Männergesicht, in dem dunkle Augen funkelten.
Die Ähnlichkeit mit seinem Bruder Rollo war unverkennbar, bis auf den roten Haarschopf, der wiederum Larens Haar so verblüffend glich. Er war ein schöner, wenn auch kein junger Mann mehr.
Hallad schien Merriks Gedanken zu erraten. »Ja, Merrik. Rollo und ich sind alt geworden.«
»Ihr beide habt euch gut gehalten«, erwiderte Merrik und wandte sich an Rollo. »Ich fürchte, Sire, die Situation wird bald schwierig werden. Ich erwarte einige meiner Leute, angeführt von Oleg. Ich hielt diesen Ausflug für einen Hinterhalt und war fest davon überzeugt, daß derjenige, der mich überfallen ließ und Fromm tötete, uns hier umbringen will.«
Lächelnd rieb sich Rollo die Hände über dem Feuer. »Werden deine Männer wie eine wilde Horde hier einfallen, oder verstecken sie sich hinter den Bäumen und warten auf dein Signal?«
»Sie warten auf mein Signal.«
»Gut. Auch meine Männer warten gut verborgen im Wald. Es steht nur ein Pferd draußen, alle anderen sind versteckt. Wir trinken einen Krug Met.«
»Warten auch wir?« fragte Laren und umarmte ihren Vater noch einmal.
»Ja«, nickte Hallad und küßte ihren Scheitel. »Auch wir warten.«
»Ihr habt weise Vorkehrungen getroffen«, sagte Merrik bewundernd.
»Ja, ich bin ein weiser Führer, Merrik Haraldsson. Ich habe dieses Reich mit meinem Willen und meiner Tatkraft geschaffen. Denkst du, ich werde dieses Land und die Menschen, die ich liebe, nicht mit jeder List beschützen, die mir zur Verfügung steht?«
Hallad versetzte seinem Bruder einen spielerischen Rippenstoß. »Er war immer schon ein Aufschneider. Bald kommt er sich wie ein Gott vor, ein Mythos, der die Jahrhunderte überdauert. Am Ende glaubt er die Geschichten selber, die arglose Dummköpfe über ihn verbreiten.«
Rollo lachte schallend. »Und du, Graubart? Du zwingst mich, dich in dieser verwanzten Hundehütte zu besuchen und den Leuten weiszumachen, daß du ein christlicher Heiliger bist, ein Magier, der mir die Zukunft aus den
Weitere Kostenlose Bücher