Der Herr vom Rabengipfel
davonsprangen, ließ sich kein wildes Tier blicken.
Am dritten Tag seiner Wanderschaft erreichte er eine Lichtung, eine sonnendurchflutete Wiese, wie er sie noch nie gesehen hatte. Und das war höchst seltsam, denn er war in dem Wald aufgewachsen und hatte seit seiner Kindheit darin gejagt. Doch diese duftende, mit bunten Blumen übersäte Waldwiese kannte er nicht. Und dann entdeckte er auf der anderen Seite der Lichtung ein wunderschönes Tier, das einem weißen Pferd ähnlich sah. Es stand reglos da, und nur sein weißer, langer Schweif fächelte hin und her. Das Tier schien keine Angst vor ihm zu haben.
Es nickte eifrig mit dem Kopf, als wolle es Rolf auffordern, näherzukommen. Langsam schritt er auf das fremdartige Wesen zu, aus dessen Stirn ein langes goldschimmerndes Horn wuchs.
Rolf hielt dem wundersamen Wesen vorsichtig die Hand entgegen.
Das Tier schnaubte, streckte seinen schönen Kopf vor und legte seine weiche Schnauze in Rolfs Hand.
>Wer bist du?< fragte Rolf, über sich selbst staunend, das Wort an ein Tier zu richten.
Zu seiner großen Verwunderung antwortete das Tier mit leiser Stimme: >Ich bin ein Einhorn, Rolf. Aber ich bin noch viel mehr. Du bist von der langen Wanderschaft durch den Wald erschöpft. Geh zurück in dein Langhaus und komme morgen wieder. <
Mit diesen Worten drehte sich das Einhorn um und galoppierte mit wehender, weißer Mähne in den Wald zurück. Rolf hätte schwören können, daß eine Stimme ihm zuraunte: >Bringe deine Waffen mit, denn im Wald lauern große Gefahrene
Rolf machte sich auf den Rückweg und brauchte zu seinem Erstaunen nur eine Stunde dafür. Seine Brüder waren erfreut, ihn wiederzusehen, setzten ihm Essen und Wein vor und hüteten sich, ihm Vorwürfe zu machen. Sie schlugen ihm auf die Schulter und versicherten ihm, wie froh sie seien, ihn wieder in ihrer Mitte zu haben. Er erzählte von dem Einhorn mit dem schönen, goldenen Horn auf der Stirn, das mit ihm gesprochen und ihm befohlen habe, am nächsten Morgen wieder zur Lichtung zu kommen. Und er fragte seine Brüder, was sie an seiner Stelle tun würden. Ragnor dachte, sein Bruder habe den Verstand verloren und nur von diesem seltsamen Geschöpf geträumt. Dennoch fragte er: >Das Horn ist aus Gold, sagst du?<
Rolf antwortete: >Ja, aus schierem Gold.<
Beide Brüder schwiegen nachdenklich.«
Laren machte eine Pause und lächelte Olaf Thoragasson an. »Was würdet Ihr an Rolfs Stelle mit dem Einhorn tun, Herr?«
Olaf Thoragasson schlug sich mit seinen derben Fäusten klatschend auf die Schenkel. »Ich würde das Tier töten und ihm das goldene Horn abschneiden. Das würde ich dann an den reichsten Prinzen der Welt verkaufen und reich werden.«
Nachdem der Beifall verklungen war, wandte sich Laren an Erik. »Und was würdet Ihr tun, Herr?«
Erik lächelte träge. »Ich würde das Tier nicht töten. Ich würde es fangen und in mein Langhaus bringen. Da es reden kann, würde ich sein Vertrauen gewinnen. Dann würde ich den Gefährten des Tieres finden, die beiden zusammensperren und für Nachkommen sorgen. Auf diese Weise hätte ich dann viele Tiere mit goldenen Hörnern. Und ich würde reicher werden als Olaf Thoragasson.«
Beifall brauste in dem rauchgeschwängerten Raum auf.
Schließlich wandte sich Laren an Merrik. »Und Ihr, Herr? Was würdet Ihr tun?«
Merrik streichelte Tabys Haar und zögerte mit der Antwort. »Ich würde nicht übereilt handeln. Ich würde zur
Lichtung zurückkehren und hören, was das Fabelwesen mir zu sagen hat.«
»Ein Mann mit Weitblick«, sagte Thoragasson beifällig. »Fahre fort, Mädchen. Erzähle, was geschah.«
»Diesmal handelte Rolf in Merriks Sinn. Er nahm sich vor, mit großem Bedacht vorzugehen, da er sich schon einmal zu einer übereilten Tat hinreißen ließ und dadurch einen Freund und talentierten Handwerker verloren hatte und, wie er sich insgeheim gestand, auch einen Teil seiner Ehre. Am folgenden Tag kehrte er zur Waldwiese zurück. Während er noch überlegte, wie er den Weg finden würde, trat er aus einem Ahornhain — und siehe da! Er stand am Rand der sonnendurchfluteten Wiese, und die Blumen wiegten sich anmutig im Wind. Das Einhorn stand auf der anderen Seite der Lichtung und blickte aufmerksam herüber. Rolf überquerte die Wiese, streichelte seine samtweiche Schnauze und berührte das goldene Horn des Tieres.
Rolf fragte: >Ist es aus Gold?<
Das Einhorn antwortete lächelnd: >Ja, aus reinem Gold. Warum fragst du?<
>Meine Brüder rieten
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