Der Herr vom Rabengipfel
stand, dann sagte er ruhig: »Du kommst jetzt mit mir.«
Er nahm sie bei der Hand und führte sie beiseite. Sie hörte die Stimmen der Männer, einige waren deutlich verärgert, andere fragend, unschlüssig. Dann hörte sie Olegs laute Stimme: »Es ist sein Recht. Merrik ist jetzt der Herr. Wir werden uns seiner Entscheidung beugen.«
Welcher Entscheidung?
Er schwieg, bis sie den Weg erreicht hatten, der zum Fjord hinunter führte. Er wies auf die Mole. Sie gingen bis ans Ende des Holzstegs, setzten sich nebeneinander und ließen die Beine baumeln. Das Wasser unter ihnen war klar und blau. Fische schwammen knapp an der Oberfläche und kräuselten das Wasser.
Die Sonne strahlte vom Himmel, die Luft war lau und warm. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und gab sie schnell wieder frei. Laren wartete.
»Du hast zwei Möglichkeiten«, sagte er endlich.
Mit seitlich geneigtem Kopf betrachtete sie sein Profil.
»Du wirst mich heiraten und auf Malverne bleiben.«
Erst jetzt sah er sie an. »Warum machst du so ein verdutztes Gesicht? Wieso schüttelt es dich? Wenn dir der Gedanke, mich zu heiraten, so sehr mißfällt, kannst du die zweite Möglichkeit wählen. Ich sorge dafür, daß du zu deiner Familie zurückkehrst, aber Taby bei mir bleibt. Ich mache ihn zu meinem Sohn.«
»Nein.«
»Nein was?«
Sie wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen.
»Ich kann dich nicht heiraten.«
»Ach? Kannst du nicht oder willst du nicht?«
»Ich kann nicht.«
»Bist du schon verheiratet? Thrasco wird doch nicht der glückliche Bräutigam sein, oder doch? Vielleicht hat man dich schon als Kind verheiratet, bevor du in die Sklaverei geraten bist?«
»Nein, nein. Nichts dergleichen.«
»Nein, natürlich bist du nicht verheiratet. Du warst unberührt, als ich dich nahm. Aha, ich verstehe. Ich bin dir zu gering, um als Ehemann in Frage zu kommen.«
»Nein, nein.«
»Mehr Rätsel, noch mehr Geheimnisse. Na schön, Laren. Vergiß nicht, daß du meine Sklavin bist. Wer immer du früher warst: jetzt bist du eine Sklavin, und viele meiner Leute halten dich für eine Mörderin. Ich biete dir den Mond und die Sterne an. Für eine Sklavin ist die Aussicht, ihren wohlhabenden Herrn zu heiraten, jedenfalls so etwas wie der Mond und Sterne.«
Sie sprang auf die Füße und blickte verstört auf ihn herunter. »Du kannst Taby nicht behalten.«
»Und ob ich das kann. Davon lasse ich mich nicht abbringen.« Auch er sprang auf. Seine großen Hände schlossen sich um ihre Arme. »Willst du mich heiraten oder nicht?«
Ein Schwarm Heringe flitzte pfeilschnell durchs Wasser. So nah, daß sie meinte, mit einem Griff einen Fisch fangen zu können. Dann hob sie den Blick zu ihm auf. Wie gern hätte sie die Falten auf seiner Stirn geglättet: »Ich kann dich nicht heiraten, weil ich Askhold versprochen bin, dem Thronfolger von Rognvald, König von Danelagh.«
Er wich zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Sie war verrückt... Er starrte sie an — in ihrem überweiten Kleid und dem schlichten Umhang war sie für eine künftige Königin von Danelagh so gar nicht standesgemäß gekleidet. In ihm tobte ein wilder Kampf, den er nicht zu erklären wußte, jedoch hinnahm, so wie er seine Gefühle für sie schon seit langem hingenommen hatte. Er glaubte ihr und bezwang den Zorn, der tief in ihm tobte und sagte leise: »Endlich sprichst du die Wahrheit. Erzähl mir den Rest der Geschichte.«
»Taby ist tatsächlich ein Prinz. Vor zwei Jahren wurden wir aus meiner Schlafkammer entführt und an einen Sklavenhändler ins Rheinland verkauft.«
»Wer ist euer Vater?«
»Unser Vater Hallad ist tot. Taby steht an zweiter Stelle in der männlichen Erbfolge seines Onkels.«
»Wer ist sein Onkel, Laren?«
Sie holte tief Luft. »Ich habe den Namen seit zwei Jahren nicht laut ausgesprochen. Unser Onkel ist Rollo, von König Karl III. des Fränkischen Reiches zum ersten Herzog der Normandie ernannt. Wie du weißt, hat König Karl Rollo mit der Normandie belehnt, um das Fränkische Reich gegen weitere Wikingerüberfälle zu verteidigen.«
Diesmal war ihm nicht, als habe sie ihn geschlagen. »Der große Rollo«, sagte Merrik ehrfürchtig mehr zu sich selbst als zu ihr. »Seit meiner Kindheit habe ich Geschichten von dem tapferen und grimmigen Rollo gehört. Ist er wirklich dein Onkel?«
»Ja, mein Vater war sein älterer Bruder. Rollo war mit einer spanischen Prinzessin vermählt. Er soll sie sehr geliebt haben. Sie gebar ihm sechs Kinder, davon drei Knaben.
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