Der Herr vom Rabengipfel
ein bitterer Schmerz stieg in ihr hoch.
»Mir geschieht nichts«, sagte sie im Aufstehen. »Bitte geh jetzt zu Merrik. Ich erwarte von dir, daß du dich wie ein großer Junge benimmst.«
Taby schaute sie lange an. Dann blickte er zu Merrik hinüber, der mit Roran und Cleve redete.
Langsam ging er zu ihm. Als Merrik sich zu dem Kind umdrehte, wich die Trauer aus seinen Augen und verwandelte sich in Erleichterung und Liebe. Er drückte das Kind an sich, schloß die Augen und murmelte etwas an Tabys Ohr. Was sagte er ihm? Noch nie hatte Laren soviel Glück, soviel Zärtlichkeit in seinem Gesicht gesehen. Zum ersten Mal verspürte Laren den Stachel der Eifersucht gegen ihren kleinen Bruder. Sie schluckte und zwang sich, den Blick zu wenden.
Sie suchte Sarla, um sie noch einmal zum Abschied zu umarmen. Als die beiden nebeneinander den Pfad zur Mole hinuntergingen, erklärte sie ihr, wie man Wacholderbeeren mit zerstoßenen Haselnüssen mischt, um damit einen Rehrücken einzureiben. Sarla hörte aufmerksam zu.
Kapitel 20
»Eine Geschichte, Laren, eine Geschichte!«
»Ja Herrin«, meinte Oleg. »Du sitzt tatenlos da und träumst von diesem ewig lächelnden Merrik, während wir uns an den Rudern abschinden.«
Wind war aufgekommen, die Männer zogen die Ruder ein und drehten sich auf ihren Seekisten zu ihr um. Laren lächelte. »Ich werde euch eine wahre Geschichte erzählen. Hört gut zu. Weland, der Statthalter von Herzog Rollo, weiß zu berichten, daß Karl III., König des Fränkischen Reiches, meinen Onkel aufforderte, an seinen Hof nach Paris zu kommen, um ihm dem Lehenseid zu schwören. König Karl befahl Rollo, vor ihm zu knien und ihm ehrerbietig den Fuß zu küssen. Mein Onkel Rollo kniete in feierlichem Ernst nieder, statt aber dem König den Fuß zu küssen, riß er ihn ruckartig hoch. Der König fiel hintenüber vom Thron und lag flach auf dem Rücken.«
Merrik und seine Männer lachten schallend. »Und was machte der König daraufhin?« fragte der Alte Firren und spuckte über die Bootswand.
»Die Höflinge eilten herbei und halfen ihm auf die Beine. Sie fürchteten, er werde ihnen befehlen, Rollo im
Kampf zu töten. Die Männer wußten, daß viele von ihnen den Kampf nicht überleben würden, da Rollo für seine übermenschliche Kraft und sein Kampfgeschick berühmt war. Der König aber klopfte sich den Staub von seinem kostbaren Gewand und blickte Rollo streng an. Die Männer traten in wachsender Unruhe von einem Fuß auf den anderen. Da erhellte ein Lächeln das Antlitz des Königs. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. Er erklärte seinen erleichtert aufatmenden Höflingen, wie sehr ihm Rollos dreiste Weigerung gefalle. Damit bewies ihm der Wikinger, daß er jeden Plünderer niedermache, der es wagen sollte, die Seine flußaufwärts zu segeln und in sein Reich einzufallen. König Karl übertrug den gesamten Nordwesten seines Landes an Herzog Rollo, mit der Auflage, auch das übrige Reich vor Angriffen der Normannen zu schützen. Seit fünf Jahren hat es keine ernsthaften Überfälle mehr gegeben. Dänen und Norweger respektieren und fürchten meinen Onkel, denn er verfügt über ein starkes Heer, er läßt Festungen bauen, die er mit seinen Soldaten bestückt. Unter dem Herrscher König Karl III. leben die Franken seit vielen Jahren zum ersten Mal in Frieden.«
Oleg strich sich seinen Viertagebart. »Ich hörte, dein Onkel habe sich geweigert, nach Paris zu reisen, um den Lehenseid zu leisten. Er soll dem Frankenkönig eine Botschaft gesandt haben mit dem Wortlaut: >Wir kennen keinen Herren. Wir sind alle gleiche Dann soll er auf die Botschaft gespuckt und den Speichel mit dem Daumen verrieben haben.«
»Davon weiß ich nichts. Aber es würde zu ihm passen. Er ist herrisch und hochmütig. Er fürchtet niemanden. Aber er reiste nach Paris, das weiß ich mit Sicherheit. Wieland hat noch nie gelogen. Und Otta, der Minister meines Onkels, erzählt die Geschichte genauso.« Sie machte eine Pause, dann fügte sie hinzu: »Vor langer Zeit drohte Rollo vom Sachsenkönig Alfred Gefahr. Doch Alfred ist seit beinahe zwei Jahrzehnten tot. Seither stört kein Feind Rollos Schlaf. Nicht einmal seine Verwandten, die Herzöge von Orkney, die immer wieder drohen, ihn zu vernichten, wenn er ihnen nicht einen Teil seines großen Lehensgebiets abtritt. Die Herzöge von Orkney sind hinterhältige, gemeine Schufte.«
»Dann stimmt es also, daß Rollo von den Orkney-Inseln stammt?«
»Ja, das stimmt. Onkel
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