Der Herr vom Rabengipfel
Rollo erzählte mir vor langer Zeit, daß ihre Einwohner ein wilder Haufen sind.«
»Wie wild?« rief Oleg.
»So wild und ungehobelt, daß sie sogar in ihre Langhäuser pissen.« Sie genoß das Lachen der Männer und wandte ihr Gesicht dem Wind zu. Auf dem tiefblauen Wasser tanzten weiße Schaumkronen. Das Boot segelte in Küstennähe, das Land stets in Sichtweite. Bei Anbruch der Dunkelheit wollten sie die Mündung der Seine erreichen.
»Als der König den Normannen Rollo zum Herzog ernannte und ihm die Normandie als Lehen übertrug, hat er den Bock zum Gärtner gemacht«, sagte Merrik, nahm sein Ruder wieder auf und zog es mit den anderen Männern rhythmisch durch das Wasser. »König Karl ist nicht dumm. Er gab deinem Onkel das Land, das er ohnehin schon besetzt hielt. Eine weise Entscheidung.«
»Das klingt, als wäre mein Onkel ein naives Kind, das sich am Nasenring herumführen läßt.«
Merrik lachte. »Nein. Vergib, wenn ich nicht respektvoll genug von deinem angebeteten Rollo spreche. Er ist ein Mann, dem großer Respekt gebührt. Dein Onkel hat für sein Volk und seine Erben das erreicht, was er haben wollte. Wer sich als Siedler und Bauer in einem Land niederlassen will, sollte nicht mit seinem Nachbarn Krieg führen. Erzähl mir mehr von Otta und Weland.«
»Otta steht meinem Onkel als Berater zur Seite, seit Rollo von König Harald aus Norwegen vertrieben wurde. Er ist jünger als mein Onkel und sehr klug. Weland, der Statthalter meines Onkel, wuchs mit ihm auf. Sie kämpften gemeinsam, heirateten am selben Tag, und ihre Frauen starben im gleichen Jahr. Sie stehen einander sehr nah.«
Die Männer begannen, von anderen Dingen zu sprechen. Laren saß neben dem Alten Firren, der das Steuerruder fest in der Hand hielt, und döste in der warmen Sonne vor sich hin. Als sie erwachte, schien ihr die Sonne nicht mehr ins Gesicht. Merrik stand mit ausgestreckter Hand vor ihr. »Wir erreichen die Seinemündung und rudern weiter flußaufwärts nach Süden. Wir werden das Nachtlager vor Rouen aufschlagen. Ich will, daß wir alle morgen frisch gewaschen und gut gekleidet die Burg deines Onkels betreten.«
Laren dachte dabei an die drei neuen Kleider, die Ileria gewebt und für sie genäht hatte. Sie waren aus feinstem Leinen und lagen ordentlich gefaltet in Merriks Seekiste.
Das Langboot wurde an einen flachen Uferstreifen gezogen, der umgeben war von dichten Haselsträuchern und Ahornbäumen. Der Abend war lau, Insekten summten, die Wellen schlugen leise ans Ufer. Sie waren weitab vom nächsten Dorf an Land gegangen.
Merrik wandte sich an Eller. »Halte deine Nase in den Wind und bleib wach.«
»Keine Sorge, Merrik. Ich paß auf.«
Merrik machte sich Sorgen, nicht wegen möglicher nächtlicher Überfälle. Er war besorgt, Laren mitgenommen zu haben, sich ihren vernünftig klingenden Argumenten gebeugt zu haben, ihr Onkel werde ihn nicht anhören, könne sogar in Zorn geraten über die wenig glaubwürdige Geschichte und ihn töten lassen. So vernünftig ihre Einwände klangen, er hätte sich nicht darauf einlassen dürfen.
Er fürchtete nicht, daß Rollo ihn töten würde, weil er seine Nichte geheiratet hatte, die dem König von Danelagh versprochen war. Damit würde der Herzog sich abfinden. Merrik machte sich vielmehr Sorgen wegen der Verräter, die sie und Taby entführt hatten. War Helga die Missetäterin? Laren schien von ihrer Schuld überzeugt. Merrik zögerte, das Naheliegende zu glauben, denn seiner Erfahrung nach erwies sich häufig der gerade Weg als Irrweg.
Er drehte sich auf seinem Lager um und nahm Laren in die Arme. Der Geruch des Wolfspelzes, gemischt mit dem Duft ihrer warmen Haut erregte ihn. Er küßte ihr Ohrläppchen, ohne sie zu wecken.
Er war im Begriff einzuschlafen, als sie aufschrie. Sie wehrte sich verzweifelt gegen ihn, ihr Atem ging keuchend, und sie stieß hilflose, kleine Schreie aus. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er schüttelte sie heftig.
»Wach auf, Laren. Es ist ein böser Traum, weiter nichts.«
Sie blinzelte, schauderte und versuchte schniefend, ihren Tränen Einhalt zu gebieten.
»Wieder der Traum?«
Sie nickte.
»Du hast den Traum lange nicht gehabt. Wieder von den Männern, die dich und Taby entführten?«
»Ich sehe ihre Gesichter ganz deutlich vor mir, Merrik. Denkst du, sie halten sich noch in Rouen auf?«
»Nein, nicht diese Männer. Aber andere. Ja, andere werden da sein. Ich hätte nicht auf dich hören dürfen. Ich hätte dich wohlbehalten in
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