Der Herr vom Rabengipfel
»Ich fasse es immer noch nicht: Meine Nichte eine Sklavin. In deinen Augen liegt Lebenserfahrung und Trauer. Ich sehe aber auch das Glück darin, das dir dieser Mann gebracht hat.«
Merrik lächelte. »Ich habe versucht, sie glücklich zu machen, Sire. Wußtet Ihr, daß sie ein Skalde ist?«
Rollo machte ein erstauntes Gesicht.
»Ja«, sagte Laren. »Ich wollte mit dem Geschichtenerzählen Silber verdienen, um mich und Taby von Merrik freizukaufen, hatte aber keine Ahnung, wie ich zu Euch gelangen sollte. Es gab natürlich noch Cleve. Er wäre mit uns gekommen.«
»Erzähl mir von diesem Cleve.«
Als Laren geendet hatte, sagte Rollo: »Schick ihn mir. Ich werde dafür sorgen, daß er nie wieder Not leidet.«
»Er ist jetzt frei«, sagte Merrik. »Er will in Norwegen bleiben.«
Rollo runzelte die Stirn. In seinem langen Leben hätte jeder Mann, dem er die Chance bot, in seine Dienste zu treten, seinen eigenen Bruder umgebracht, um dieses
Ziel zu erreichen. »Er weiß noch nicht, was ich ihm zu bieten habe.«
»Es gibt da eine Frau, Mylord«, sagte Laren. Rollo warf seufzend einem der Jagdhunde, die sich erstaunlich wohlerzogen im Hintergrund hielten, einen Fasenenknöchel zu.
Rollo nahm eine Handvoll mit Honig gesüßter Walnüsse. »Erzähl mir von der alten Frau, die dir das Kochen beibrachte.«
Und Laren berichtete mit der ihr eigenen Wortgewandtheit. Und als sie davon sprach, wie die alte Frau ihre in Weinblätter gehüllten süßen Zwiebel probierte, schmeckte Merrik deren Köstlichkeit geradezu auf der Zunge.
Rollo war unersättlich, dachte Laren, als er sie wieder drängte: »Und jetzt erzähl mir von diesem Pelzhändler Thrasco, der dich kaufte.«
Sie erzählte auch davon, ohne jedoch die Peitschenhiebe zu erwähnen; doch dabei ließ Merrik es nicht bewenden.
»Er hielt Laren für einen Burschen, Sire, den er Kha-gan-Rus's Schwester schenken wollte, die sich gern mit Knaben vergnügt. Laren wollte um jeden Preis zu Taby zurück und war aufsässig. Deshalb peitschte Thrasco sie halb zu Tode. Zum Glück fand er nicht heraus, daß sie ein Mädchen war.«
»Und du hast mich befreit, Merrik«, setzte sie hinzu, das gerötete Gesicht, die hervortretenden Adern an Schläfen und Hals ihres Onkels bemerkend. Zum Feind wollte sie diesen Mann beileibe nicht haben.
»Nein, nicht wirklich. Ich habe dich nur eingefangen.« Ihm war daran gelegen, daß Rollo nachempfinden konnte, welche Qualen und Entbehrungen sie ertragen hatte, ohne ihn zu sehr zu erzürnen, so daß er Vemunftgründen nicht mehr zugänglich war. »Es war ihr bereits gelungen, aus Thrascos Haus zu entkommen. Sie lief mir direkt in die Arme. Sie hat Euer Blut in den Adern, Sire. Sie gibt nicht auf.«
»So war sie schon als Kind«, bestätigte Rollo. »Sie konnte damals schon Geschichten erzählen — aber ein Skalde! Erstaunlich.«
Die drei plauderten bis tief in die Nacht hinein. Rollo wollte jede Einzelheit von ihrem Leben in den vergangenen zwei Jahren wissen. Schließlich wurde Weland vorgelassen. Er mahnte: »Sire, es gilt, noch einiges zu besprechen. Bis morgen werden Helga und Ferlain erfahren haben, daß wir Gäste haben. Sie werden Fragen stellen. Es gibt jetzt schon Fragen über die zwanzig Wikinger, die so gut bewirtet werden. Die beiden Frauen sind nicht dumm. Und Eure Schwiegersöhne haben Vertraute. Vor allem Fromm entlohnt seine Spitzel großzügig.«
Rollo strich sich das Kinn mit seinen von der Gicht verkrümmten Fingern. Seltsamerweise brannten seine Gelenke heute nacht nicht wie Höllenfeuer. Er fühlte sich verjüngt. Sein innigster Herzenswunsch war in Erfüllung gegangen.
»Ja«, meinte er nachdenklich, »wir müssen reden.«
»Ich habe einen Plan, Sire«, sagte Merrik und beugte sich vor.
Ferlain durchmaß die Kammer mit hastigen Schritten, ohne von ihrer Schwester Helga beachtet zu werden, die einen Trank mischte, dessen Zutaten sie sorgsam abmaß.
Zum dritten Mal fragte Ferlain: »Wer sind diese Wikinger? Eine Frau ist auch dabei, und niemand weiß, wer sie ist. Wer ist sie, Helga? Tu doch etwas! Befrage deine elenden Rauchzeichen! Schau in deine Kristallkugel!«
Helga war mit dem Abmessen fertig und hob den Blick. Dann begann sie, die Flüssigkeit in der Silberschale vorsichtig umzurühren. Mit leiser, weicher Stimme sagte sie: »Ich verstehe, warum dein Ehemann dir aus dem Weg geht, Ferlain. Ständig zeterst und jammerst du, machst dir unnötig Sorgen. Das ist ermüdend. Setz dich und halt den Mund. Ich muß
Weitere Kostenlose Bücher