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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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umherwirbelnde Strohknäuel, altes Stroh von in der Sonne vergessenen Schobern. Schon am Morgen hatte sich der Wind erhoben; über den Meeresspiegel hatte er geschabt, um ihm den weißen Zuckerschaum der Gischt zu nehmen, die Steilküste hatte er erstiegen und dabei das Heidekraut schrill aufsäuseln lassen; nun strich er um das Haus, wobei er sich kleinste Verwinkelungen als Pfeifchen nutzbar zu machen verstand, hob auch hier und da einen der leichteren Dachziegel ab; er scheuchte die Blätter des vergangenen Herbstes vor sich her, bräunliche filigrane Gebilde, die dem Säftesog des Kompostes entkommen waren, zog aus den Wagenspuren heraus grauwehende Staubfahnen hoch und raute mit seiner Raspel die Schlammkrusten vertrockneter Pfützen auf.
    Am Dorfrand bildete sich ein Windwirbel; Reisig und wildgewordenes Gekräut begannen zu kreiseln und gaben dabei das stumpfe Ende eines taumeligen Kegels ab, der sich auf seiner Spitze launenhaft fortbewegte, wie die Mine des Schreibgerätes, wenn sie die Höhenschichtlinien einer Reliefkarte abwandert. Nahe bei der hohen grauen Mauer zeigte sich etwas Schwarzes, Schwammiges, Hohlplastisches; die Kegelspitze eilte in unberechenbarem Zickzacksprung darauf zu: Es war die leere federleichte Hülle einer schwarzen Katze, einer Katze ohne Substanz, ungreifbar und ausgedörrt. Vom Wirbelwind gejagt, rollte sie über die Straße, kraftlos und knitterig wie ein Zeitungsblatt über den Strand weht, mit großem krakeligen Gebärdenspiel. Der Wind machte seine Brummsaiten an den Spitzen der hohen Gräser fest. Das Katzenphantom hob mit groteskem Satz vom Boden ab und sackte wieder unbeholfen zurück. Eine Windsbraut drückte es flach gegen eine Hecke, forderte den knochenlosen Hampelmann jedoch gleich wieder zum nächsten Walzer. Plötzlich sprang die Katze die Böschung hinunter, da der Weg eine Biegung nahm, und machte sich querfeldein davon; sie huschte über die grünen Spitzen des keimenden Wintergetreides, bei jeder Berührung elektrische Funken erzeugend, von Stelle zu Stelle purzelnd, wie ein trunkener Rabe auf die allervollkommenste Weise leer, wie ein ausgetrocknetes Gewächs nur sein kann, dürr wie das alte Stroh von in der Sonne vergessenen Schobern.

8
    30. März
    Mit einem Satz war Jacquemort auf der Straße und atmete die frische Luft ein. Er empfing vielfältige und neue Gerüche, die in ihm eine Flut unzureichend abgeschüttelter Erinnerungen auf den Plan riefen. Es war eine Woche her, dass er die geistige Substanz der schwarzen Katze in ihrer Gesamtheit in sich aufgesogen hatte; seither fiel er von einer Überraschung in die andere und lernte nur mit großer Mühe, sich in dieser komplexen und von heftigen Gefühlen durchpeitschten Welt zurechtzufinden. Es wäre falsch zu sagen, dass er dadurch wesentlich neue Verhaltensformen erworben hätte; seine körperlichen Gewohnheiten und seine maßgeblichen Reflexe erwiesen sich als schon zu tief eingewurzelt und angelernt, als dass sie sich grundlegend beim Kontakt mit denen der schwarzen Katze hätten verändern können, deren proportional schwache Intensität die geringe Wirkung erklärte; er lachte nun über seine Versuche, glauben zu machen — und auch sich selbst weiszumachen—, dass er die Notwendigkeit verspürte, sich mit dem Fuß am Ohr zu kratzen, oder in Hockstellung zu schlafen, die Fäuste unterm Kinn. Jedoch waren ihm eine Menge von Wünschen und Empfindungen, sogar Gedanken, verblieben, deren geringen Tiefgang und große Anziehungskraft er bei sich verzeichnete. Da war zum Beispiel der Baldrian: Er roch, dass ein paar Meter entfernt eine Baldrianstaude wuchs. Er kehrte ihr jedoch entschlossen den Rücken und ging in die dem Dorf entgegengesetzte Richtung, auf die Steilküste zu. Eine Idee, die er für außerordentlich gut hielt, leitete ihn dabei.
    Er gelangte zum steil abfallenden Rand der Küste und entdeckte mühelos einen kaum erkennbaren Pfad, der wahrscheinlich vom Steinschlag gebahnt worden war. Ohne zu zögern betrat er ihn, wobei er den Rücken dem Abgrund zukehrte und seine Hände beim Abstieg zu Hilfe nahm. Als sich Felsbrocken unter seinen Tritten lösten, verspürte er leichte Erregung, doch unzweifelhaft war sein Abstieg von einer behänden Sicherheit gekennzeichnet, die er noch nie an sich wahrgenommen hatte. In wenigen Augenblicken war er am Fuß der Steilküste angelangt. Die Ebbe hatte einen schmalen Streifen Schwemmkies zutage treten lassen, von zerklüfteten Felsriffen eingerahmt und von

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