Der heulende Müller
das Mehl zu schicken.«
Kurze Zeit später hatte Happola etwas in der Stadt zu erledigen. Diese Nacht war für Huttunen der geeignete Zeitpunkt, aus der Klinik zu fliehen.
Als im Haus alles in den Federn lag, öffnete Happola mit seinem Schlüssel die Zimmertür. Lautlos schlichen die Männer durch die stillen Korridore des großen Hau ses, bis sie in die Küche und die dahinter liegende Wä scherei gelangten. Im Wäschelager suchten sie nach Huttunens Zivilkleidung. Die persönliche Habe der Patienten wurde in Pappkartons aufbewahrt. Huttunens Karton war der oberste in der vorderen Reihe, denn Huttunen gehörte zu den Neuen in der Klinik. Er zog sich seine eigenen Sachen an, schloß den Gürtel und kontrollierte die Geldbörse. Einiges Geld war ver schwunden, doch erstaunlicherweise nicht alles. In den leeren Karton stopfte er den Anstaltskittel, die Mütze und die Pantoffeln und stellte ihn wieder an seinen Platz.
»Ziehst du dich nicht um?« fragte er verwundert sei nen Kameraden, der im Anstaltspyjama über den Flur schlurfte.
»Im Sommer reichen diese Sachen. Wenn ich tagsüber in der Stadt unterwegs bin, ist es was anderes. Ich habe im Kleiderschrank in der Wäscherei einen modischen Anzug hängen, aber bei meinen Nachtausflügen ziehe ich den nicht extra an. Da verdirbt man sich bloß unnö tig die Bügelfalten.«
Durch eine Seitentür traten die Männer auf den knir schenden Kies des Hofes. Sie stiegen auf einen kiefern bewachsenen Hügel, auf dem ein alter Wasserturm aus roten Ziegeln stand. Huttunen drehte sich um und blickte zurück. Unten ruhte das riesige, düstere Gebäu de der Nervenklinik. Nirgendwo brannte Licht, niemand folgte den Flüchtenden. Diesem Haus des Schreckens zu entkommen war unbegreiflich einfach gewesen.
Aus dem Giebelfenster der Frauenabteilung drang eintöniges Klagen. Irgendeine unruhige Patientin fand keinen Schlaf.
Es schauderte Huttunen, als er die trostlosen Klage laute hörte. Ihm war selber danach zu heulen, gleich sam der Unglücklichen zu antworten, die so bemitlei denswert über ihre unbekannten Qualen jammerte. Gerade als er ein wildes Geheul anstimmen wollte, erzählte Happola leise:
»Das ist die Liisa Kastikainen, sie macht das schon länger als zwei Jahre ununterbrochen. Im Herbst sind es genau drei Jahre. Ich weiß noch, wie sie gebracht wurde, sie war in Decken verschnürt. Anfangs hat man ihr einen Knebel in den Mund gesteckt, aber der Stati onsarzt hat es verboten, weil ihr die Zähne rausfielen.«
Vom Wasserturm führte eine Straße in die Stadt. Lei-se schritten die Männer durch die dämmerige Sommer nacht, vor sich Oulu, die weiße Stadt des Nordens.
16
In Heinäpää stand Happolas zweistöckiges Holzhaus. Die Farbe war während der Kriegsjahre abgeblättert, aber sonst war es in recht gutem Zustand. Der Hofhund kannte Happola und begrüßte auch Huttunen mit einem Schwanzwedeln. Happola suchte an seinem Schlüssel bund nach dem richtigen Schlüssel. An der Tür prahlte er:
»Na, was sagst du? Nicht viele Unzurechnungsfähige können so gut rechnen! Dieses Haus ist schuldenfrei, und obendrein liegt noch Geld auf der Bank. Ich könnte mir auf einen Schlag ein neues Auto kaufen, wenn ich nur die Lizenz kriegen würde. Ich hab’ es schon mal übers Ausland versucht, aber der Staat hat sich auf meine Geisteskrankheit berufen.«
Vom Flur gingen mehrere Türen ab. An jeder stand ein anderer Name.
»Alles Mieter… und oben wohnen noch mehr.« Happola öffnete eine der Türen. Im Zimmer standen
zwei Betten, ein Tisch und einige Stühle. In dem einen Bett lag eine Frau in mittleren Jahren. Sie sagte ver schlafen:
»Ah, der Hauswirt… Muß es schon wieder sein?« »Du brauchst dich nicht auszuziehen. Ich habe bloß
einen Kumpel für kurze Zeit hergebracht. Mach ihm morgen Frühstück, aber sonst laß ihn in Ruhe.«
Sie legte sich wieder hin und schlief bald ein. Happola fing an, Huttunens Zukunft zu planen.
»An deiner Stelle würde ich die Mühle verkaufen und nach Amerika gehen. Wenn es nicht mit USA klappt, dann setz dich nach Spanien ab. Ein Bekannter von mir, ein Major, ist gleich nach dem Krieg hingezogen. Dem Vernehmen nach geht es ihm gut, er lebt von der
Nelkenzucht… Gehört zu deiner Mühle viel Land?« » Bloß ein paar Hektar, aber die Mühle ist in gutem
Zustand, und da steht auch noch eine fast neue Schin delmaschine. Ich hab’ das Gebäude sogar noch angestri chen, bevor sie mich festgenommen
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