Der heulende Müller
das vertragen.«
Und zu Huttunen gewandt:
»Wie Sie hörten, bekommen Sie die Sondererlaubnis, hier bei uns zu heulen. Allerdings hoffe ich, daß Sie die Nächte meiden. Es könnte unter den übrigen Patienten Unruhe hervorrufen.«
Verdrossen sagte Huttunen:
»Ich werde es hier nicht machen.«
»Sie können Ihre Stimme frei einsetzen. Ich vertrete jene Schule, die der Auffassung ist, daß der stimmliche Ausdruck eines Patienten viel Aufschluß über seine Krankheit gibt.«
»Ich heule nicht. Mir ist nicht danach zumute.« Der Arzt redete ihm zu:
»Könnten Sie es nicht jetzt einmal kurz machen, nur zur Probe? Es wäre interessant zu hören, wie Sie heu len, wenn Sie in der Stimmung sind.«
Ruhig verwies ihn Huttunen darauf, daß er nicht geistesgestört sei, höchstens ein wenig sonderbar. Wenn er allerdings genau hinschaue, sehe er um sich herum weitaus merkwürdigere Menschen. Als der Arzt wieder einmal seine Brille putzte, fügte er ärgerlich hinzu:
»Ich finde, Ihre Brille ist sauber genug. Müssen Sie andauernd daran rumreiben?«
Der Arzt setzte die Brille schnell auf die Nase. »Das ist nur eine harmlose Gewohnheit, eine
Handlungsstereotypie, können Sie das nicht begreifen!« Er gab den Pflegern einen Wink, den Patienten hin
auszuschaffen. Sie packten Huttunen an beiden Armen und schleiften ihn auf den Flur. Dort stießen sie ihn ins Kreuz, damit er schneller gehe. Im Zimmer angekom men, zwangen sie ihn, sich ins Bett zu legen. Dann knallten sie die Tür zu und drehten wütend den Schlüs sel um.
15
In jenen Tagen begriff Huttunen, daß er nicht aus der Nervenklinik herauskäme, jetzt nicht und vielleicht niemals. Er versuchte noch einmal mit dem Arzt zu sprechen, doch der empfing ihn nicht mehr, sondern verschrieb ihm Tabletten, die ihm der brutale Pfleger gewaltsam in den Hals stopfte.
Huttunen dachte an seine rote Mühle ins Suukoski, an die Klubberaterin Sanelma Käyrämö und den schö nen Sommer, von dem er nur mehr einen Ausschnitt im Gitterfenster sah. Ihm wurde unendlich elend zumute. Er versuchte ein Gespräch mit seinen Mitpatienten, doch die Schwachsinnigen begriffen nichts von dem, was er ihnen sagte; nur mit Happola konnte er hin und wieder heimlich flüstern.
Einige Tage vergingen. Huttunens Niedergeschlagen heit wuchs. Er lag Tag für Tag still auf seinem Bett und grübelte darüber nach, welche schlimme Wendung sein Schicksal genommen hatte. Er musterte die Gitter vor dem Fenster: sie schlossen ihn von der Welt ab, kalt und sicher; kein Mann könnte sie aus eigener Kraft ausei nanderbiegen. Und die Tür war immer versperrt. Huttu nen versuchte, Fluchtmöglichkeiten im Speisesaal aus zumachen, doch es waren stets mehrere robuste Pfleger anwesend, die den Saal bewachten. Es war aussichtslos. Im schlimmsten Fall, dachte er, würde er diese Anstalt nicht mehr auf eigenen Füßen verlassen. Erst wenn er tot war, würde man ihn hinaustragen, in den Leichen raum, wo sich ein barscher Pathologe mit dem Beil über seinen Körper hermachen und ihn in Stücke zerlegen würde, geeignet für medizinische Forschungszwecke.
Manchmal war ihm nachts so beklommen und schrecklich zumute, daß er aus dem Bett aufstehen und im Dunkel des Zimmers viele Stunden auf und ab gehen mußte, immer dieselbe Strecke, wie es die Tiere im Käfig tun. Huttunen fühlte sich wie ein Häftling, der nichts verbrochen hat, wie ein Verurteilter ohne Urteilsspruch. Er hatte nichts zu sühnen und somit auch keine Hoff nung auf Freiheit. Er hatte überhaupt nichts – keine Rechte, keine Pflichten, keine Alternativen. Ihm blieben nur seine eigenen Gedanken und sein immer ungezügel terer Freiheitsdrang, den er nicht befriedigen konnte. Er glaubte verrückt zu werden in diesem Zimmer mit all den apathischen Schwachsinnigen.
Eines Tages begann der schmächtige junge Mann mit der ständig wechselnden Mimik, ihm von seinem Leben zu erzählen. Der arme Kerl redete sehr wirr, Huttunen konnte ihm nur mit Mühe folgen.
Es war eine schreckliche Geschichte. Der bedauerns werte Bursche war als uneheliches Kind einer schwach sinnigen Mutter zur Welt gekommen. Er hatte Hunger und Mißhandlungen erlitten, solange er denken konnte. Als die Mutter aus irgendeinem Grund ins Gefängnis gekommen war, hatte man den Jungen für wenig Geld an einen versoffenen Bauern verkauft. Dort hatte er unmäßig arbeiten, dem saufenden Herrn und den ver kommenen Knechten dienen müssen, und weil er bereits damals sehr
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