Der Hexenturm: Roman (German Edition)
von Duderstadt nicht noch einmal die Flucht ergriff. Mittlerweile hatte es sich auf dem Eichsfeld herumgesprochen, dass gegen Albrecht Harßdörfer Beschuldigungen vorlagen, und die Gewissheit darüber ärgerte ihn. Langsam schwand seine Hoffnung, dass man die Anklage fallen lassen würde. Da er ahnte, dass eine Verurteilung für ihn das Ende seines guten Lebens in Duderstadt bedeuten würde, hatte er sich entschlossen, ein Gesuch an den Kurfürsten Johann Schweikhard von Kronenberg zu richten. Er bat, sein weiteres Leben in einem fern gelegenen Kloster verbringen zu dürfen. In dem Schreiben beteuerte er aber erneut, dass er unschuldig und zur Tat verführt worden sei. Allein die Magd des Großbauern Bonner trage an allem Schuld, und da diese flüchtig sei, sei der Großbauer bereits auf der Suche nach ihr. Er aber habe als Bürgermeister von Duderstadt lediglich die Absicht verfolgt, das Geld der Stadt zu nutzen, um es für die Bürger zu mehren. Nicht einen einzigen Gedanken habe er daran verschwendet, sich selbst zu bereichern.
Harßdörfer hoffte, dass der Kurfürst seinem Gesuch stattgeben und bereits im Januar der Spuk ein Ende haben würde. Bis dahin musste er Ruhe bewahren und sich gedulden. Als seine Frau ihn zum Weihnachtsessen rief, seufzte er und versuchte eine zuversichtliche Miene aufzusetzen, bevor er das Esszimmer betrat.
Der Heilige Abend im Jahr 1617 war auf dem Rehmringer-Gestüt ein anderer als in den Jahren zuvor. Verhaltene Feststimmung herrschte in dem Haus, wo dieser Abend sonst freudig erwartet wurde. Regina Rehmringer saß zum ersten Mal in ihrem Leben am Weihnachtsabend allein im Esszimmer an der gedeckten Tafel. Unglücklich stierte sie vor sich hin. Sie verspürte keinen Appetit, da ihr besonders an diesem Abend schmerzlich bewusst wurde, dass ihr Sohn Melchior von ihr gegangen war – ebenso wie sein Vater und ihre beiden anderen Kinder, die kurz nach der Geburt gestorben waren. Als Regina Rehmringer an die vergangenen Weihnachtsfeste mit ihrem Sohn dachte, leuchteten ihre Augen für einen kurzen Moment auf. In Gedanken hörte sie, wie Melchior ihr zuprostete und sagte: »Auf meine Mutter, die wundervollste Frau auf Erden!« Ihr war seine Huldigung stets unangenehm gewesen, und auch jetzt überzog bei dem Gedanken an seine Worte eine feine Röte ihr Gesicht. Was war von all dem Schönen geblieben? Es gab nur noch sie – eine alte Frau mit weißem Schopf und runzliger Haut. Sie bedauerte zutiefst, dass ihr weder eine Schwiegertochter noch ein Enkelkind vergönnt waren, die sie über die einsamen Stunden hinwegtrösteten und das Lachen in ihr Leben zurückbrachten.
Betrübt saß Regina Rehmringer am Tisch und starrte Braten, Karpfen, Gemüse und Pasteten an. »Wer soll das alles essen?«
Nachdem das Gesinde die Arbeiten auf dem Gestüt erledigt hatte, gab Clemens ihnen frei, damit sie den Abend bei ihren Familien verbringen konnten. Ungläubig hatten der Schmied, die Knechte und Mägde Clemens zugehört. Freie Stunden hatte es in all den Jahren nie gegeben, schließlich musste das Vieh auch an Sonn- und Feiertagen versorgt werden. Doch als die fünf Eichsfelder versprachen, bis zur Rückkehr des Gesindes diese Arbeiten zu verrichten, zögerten die Männer und Frauen nicht länger und eilten freudig nach Hause.
Burghard, Clemens, Johann und die zwei Frauen saßen am großen Tisch in der Küche, um gemeinsam den Heiligen Abend zu feiern. Aber selbst der Braten, den Franziska zubereitet hatte, entlockte Clemens, Katharina oder Burghard kein Lächeln.
Franziska blickte fragend zu Johann, der nur stumm mit den Schultern zuckte.
Zaghaft sah Katharina Clemens an, der sie keines Blicks würdigte. Seit sie ihm ihre Gefühle für Burghard gestanden hatte, verhielt er sich abweisend. Das ist der Dank für die Pflege, die ich ihm zukommen ließ, grollte Katharina in Gedanken. Es zerreißt mir das Herz, weil ich Weihnachten ohne meine Eltern feiern muss, und jetzt habe ich auch noch einen Freund verloren!
Da es Katharina wichtig war, Clemens die Wahrheit zu sagen, war sie sofort am darauffolgenden Tag, nachdem ihr Burghard seine Liebe gestanden hatte, zu ihm gegangen und hatte ihm mit bebender Stimme alles gesagt. Clemens war stumm und regungslos geblieben. Nichts verriet seine Gefühle.
Erst nach ihrem Geständnis hatte Katharina gewagt, ihm in die Augen zu blicken. Niemals würde sie die Traurigkeit vergessen, die sie darin sah.
»Ich wünsche euch Glück«, war das
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