Der Hexer - GK567 - Als der Meister starb
mußte ich erkennen, daß ich die Schrift, in der es verfaßt war, nicht lesen konnte. Selbst die Form der Buchstaben war mir fremd.
»In diesem Buch ist alles aufgeschrieben«, sagte er. »Ich wollte es dir später geben, wenn du reif gewesen wärest, es zu verstehen, aber ich werde keine Zeit mehr dazu haben.«
Ein leiser Schauer überfiel mich bei seinen Worten. Aber ich spürte, daß er recht hatte. Er würde sterben. Ich wußte es mit absoluter Sicherheit, im gleichen Augenblick, in dem er die Worte aussprach.
»Was ist das für ein Buch?« fragte ich leise.
Andara kam nicht dazu, zu antworten.
Denn in diesem Moment erscholl auf dem Deck über uns ein gellender Schrei!
** *
»Sie sind da«, keuchte Lyssa. Ihre Stimme klang kaum mehr menschlich. Sie war verfallen, alt und verbraucht, so wie ihr Körper. Im Laufe der letzten fünfzig Minuten war sie um die gleiche Anzahl von Jahren gealtert; verbrannt von dem satanischen Feuer, das in ihrem Geist loderte. Sie hatte Dinge angerührt, die den Menschen auf ewig verboten waren, und sie bezahlte den Preis dafür. »Sie sind da«, murmelte sie noch einmal. Ihr Blick wanderte zur Tür. Ihre Augen waren längst blind, und doch konnte sie – mit einem anderen, bizarren Sinn – die tobende Meute erkennen, die sich dem kleinen Gebäude auf breiter Front näherte. Der magische Schutzwall, der sie und die beiden anderen bisher den Blicken der Lyncher entzogen hatte, existierte nicht mehr.
»Hab keine Furcht, mein Kind«, murmelte die Alte. »Sie werden dir nichts tun. Jetzt nicht mehr.« Sie kicherte; ein böser, meckernder Laut, der Lyssa und ihrem Bruder Lennard einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Obgleich sie beide Träger der Macht waren wie die Alte, spürten sie jetzt die abgrundtiefe Kluft, die zwischen ihnen war. Verglichen mit dem Strom von Kraft, über die die Alte gebot, war die ihre nicht mehr als ein Wassertropfen im Ozean.
»Aber sie stirbt!« Lennard schrie es fast. Sein Blick irrte zwischen dem Gesicht seiner Schwester und dem der Alten hin und her. »Sie ...«
»Ja, sie stirbt«, unterbrach ihn die Greisin. »So wie du, wie Quenton und ich. Aber es ist nicht das Ende.« Sie blickte flüchtig zur Tür. Das Johlen der Menge war lauter geworden, und genau in diesem Moment erzitterte die Tür bereits unter einem ersten wuchtigen Schlag. Das morsche Holz ächzte hörbar. Brandgeruch wehte von draußen herein.
»Es ist vollbracht!« sagte die Alte triumphierend. »Ich, Andara, die Gebieterin der Macht, rufe dich, Herr alles Bösen! Ich rufe dich! Komm und nimm uns! Nimm unsere Körper! Nimm unsere Seelen und nimm unsere Gedanken! Löse den Pakt ein!«
Der unwirkliche, grüne Schein, der die ganze Zeit über in der Luft gehangen hatte, wurde stärker. Ein zweiter Schlag ließ die Tür erbeben; eine der rostigen Schrauben brach aus dem Schloß und klirrte auf den Boden.
Sekunden später stürzte die Tür in einem Regen von Holzsplittern, Kalk und Rauch auseinander. Das haßverzerrte Gesicht eines Mannes erschien in der Öffnung, Augen, die nach weiteren Opfern suchten.
Aber der winzige Raum war leer.
Nur in der Luft lag noch ein schwacher, grüner Schein. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als zeichne er die Konturen dreier Menschen nach, die an dem kleinen, runden Tisch saßen.
Dann erlosch auch er, und die Hütte war so leer, als wären die drei Personen nicht mehr als ein Spuk gewesen .
** *
Der Wind traf mich wie ein Hieb ins Gesicht, als ich hinter Andara auf das Deck stürmte. Das Schiff zitterte unter meinen Füßen, und über uns blähten sich die Segel, als würden sie jeden Augenblick zerreißen. Der Bug des Schiffes war in einer Wolke schaumig spritzender Gischt verschwunden. Die LADY OF THE MIST pflügte schnell wie ein Dampfschiff durch die Wellen, und der Rumpf und die Masten ächzten unter der Belastung, als wollten sie zerbrechen.
Andara blieb stehen, ergriff mich mit der Linken am Arm und deutete mit der anderen Hand nach oben. Ich warf den Kopf in den Nacken und folgte seiner Geste.
Über uns tobte ein Kampf auf Leben und Tod.
Es waren zwei von Bannermanns Matrosen, Mannings und ein kleinwüchsiger, dunkelhaariger Mann, den ich ein paarmal während der Reise unten in den Laderäumen des Schiffes gesehen hatte, die in den obersten Rahen des Hauptmastes einen sinnlosen Kampf ausfochten. Der Matrose stand mit haßverzerrtem Gesicht und weit gespreizten Beinen auf der Rahe, so sicher, als hätte er
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