Der Hexer - NR10 - Wenn der Stahlwolf erwacht
verschwand.«
Eine Sekunde lang starrte ich ihn an, dann begriff ich endlich. Gloria Martin war das Mädchen, das von den Killermotten getötet worden war, die Howards wahnsinniger Logenbruder als Waffe gegen uns geschaffen hatte. Die Sache war Monate her, und ich hatte immer angenommen, daß Gray es irgendwie fertig gebracht hätte, sie zu bereinigen. Aber ich hatte nicht mit einem Mann namens Wilbur Cohen rechnen können.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte ich stur.
Cohen grinste böse. »Das macht nichts, Craven«, sagte er. »Wir haben Zeit genug, uns über alles zu unterhalten. Folgen Sie mir.«
Ich widersprach nicht, sondern erhob mich gehorsam von meinem Platz. Es war völlig sinnlos, weiter mit ihm diskutieren zu wollen oder gar einen Fluchtversuch zu unternehmen; Cohen wartete nur auf einen handfesten Grund, mich in Ketten zurück zum Yard zu schleifen.
Die beiden Männer neben der Tür beendeten rein zufällig im gleichen Moment ihre Zeitungslektüre, in dem wir zwischen ihnen hindurchgingen, falteten die Blätter zusammen und folgten uns. Cohen ging im Sturmschritt neben mir her, blieb aber schon nach wenigen Schritten wieder stehen und deutete mit einer Kopfbewegung über den Bahnsteig.
Ich sah gleich, was er meinte. Rowlf und Howard war es nicht besser ergangen als mir. Rowlf stand mit geballten Fäusten und blitzenden Augen einem guten halben Dutzend unglaublich unauffällig gekleideter Männer gegenüber und schien sich noch nicht entschieden zu haben, ob er sie verdreschen oder ihnen folgen sollte, während Howard mit steinernem Gesicht zwischen zwei von Cohens Männern zum Ausgang ging.
»Sie sehen, Craven«, sagte Cohen süffisant, »daß Sie sich das ganze alberne Versteckspiel hätten sparen können.«
»Ich dachte, ich hätte Ihren Mann abgeschüttelt«, sagte ich düster.
Cohen blinzelte verwirrt. »Welchen Mann?« fragte er. »Ich habe niemanden auf Sie angesetzt, Craven. Wir haben hier auf Sie gewartet.«
* * *
Das Gras wuchs an dieser Stelle fast hüfthoch, und Kilian hatte die Ratte längst aus den Augen verloren. Nur dann und wann raschelte es vor ihm im Gras, und manchmal bewegten sich ein paar Halme gegen den Wind. Wäre das Tier nicht immer wieder stehengeblieben und hätte kleine, pfeifende Laute von sich gegeben, hätte er seine Spur schon nach wenigen Augenblicken verloren.
Aber die Ratte achtete sorgsam darauf, ihn nicht zu verlieren. Immer wieder verhielt sie und wartete, bis er aufgeschlossen hatte, und ein paarmal kletterte sie sogar auf Steine oder Baumstämme hinauf, um sich dem Alten zu zeigen und ihm Gelegenheit zu geben, erneut an ihre Seite zu treten.
Kilian war völlig außer Atem, als sie die Flanke des Hügels erklommen hatte und dort auf ihn wartete. Seine alten Beine wollten nicht mehr, und seine Lungen schmerzten bei jedem Luftholen, als atme er Nadeln. Trotzdem schleppte er sich gehorsam weiter, als das ungeduldige Pfeifen der Ratte wieder ertönte.
Als er neben ihr auf der Kuppe des Hügels anlangte, brach er in die Knie. Sein Herz raste, als wolle es zerspringen, und für einen Moment begannen sich der Himmel und die grasbewachsene Küstenlandschaft vor seinen Augen wie irr zu drehen.
Die Ratte quietschte ungeduldig, trippelte ein paar Schritte davon und blieb wieder hocken. Ihr dünner, haarloser Schwanz peitschte nervös.
Kilian versuchte sich auf Hände und Knie hochzustemmen, aber seine Kräfte versagten. Er fiel, schlug schwer mit dem Gesicht auf dem Boden auf und schmeckte bitteres Blut und Galle. Für Augenblicke wurde ihm übel.
»Du mußt... langsamer gehen, Herr«, keuchte er. »Kilian ist ein alter Mann. Hat seine... besten Jahren hinter sich. Will ja gehorchen, aber er... kann nicht mehr so schnell.«
Die Ratte pfiff, als hätte sie seine Worte verstanden, kam plötzlich wie ein brauner Blitz zurückgeschossen und grub ihre Zähne kurz und tief in Kilians Hand. Der alte Mann schrie auf, stemmte sich mit der Kraft der Verzweiflung in die Höhe und blieb schwankend stehen, die blutende Hand gegen die Brust gepreßt.
»Ich komme ja schon, Herr«, wimmerte er. »Tu dem alten Kilian nichts mehr. Ich... will auch gehorchen.«
Die Ratte lief weiter, und Kilian taumelte hinter ihr her. In schrägem Winkel liefen Sie den Hügel hinab, den sie gerade so mühsam erstiegen hatten, und nach einer Weile sah Kilian auch, was ihr Ziel war.
Es war das Grab. Nicht der Friedhof von St. Aimes, auf dem sich jetzt so schreckliche Dinge taten,
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