Der Hexer - NR20 - Unter dem Vulkan
ihm bot, ließ ihn erstarren. Durch das deckenhohe Fenster, das eine ganze Wand des Salons einnahm, fiel mildes blaues Licht herein, aber wo vor wenigen Minuten noch die Unendlichkeit des Ozeans gewesen war, wand sich jetzt etwas Gigantisches, Grün-schwarzes. Riesige leuchtende Augen starrten mit blinder Wut zu ihnen herein. Ein halbes Dutzend mannsdicker Fangarme wogten wie ein Nest gräßlicher saugnapfbewehrter Schlangen in der Strömung, und unter dem aufgedunsenen Balg des Ungeheuers klappte ein schrecklicher Papageienschnabel, groß genug, einen Mann mit einem einzigen Biß zu verschlingen.
»Er könnte dieses Schiff zerstören, Lovecraft«, sagte eine Stimme.
Howard fuhr herum – und erstarrte zum zweiten Male. »Sie?« keuchte er.
* * *
Obwohl ich den Höhleneingang jetzt zum ersten Male bei hellem Tageslicht sah, schien er beinahe noch bedrohlicher zu wirken: ein gähnendes, weit aufgerissenes Maul, das jeden verschlingen mußte, der schwachsinnig genug war, auch nur einen Fuß dort hinein zu setzen. Das unheimliche Glühen, das während der Nacht aus dem Berg gedrungen war, hatte zugenommen und war jetzt selbst im Sonnenlicht zu erkennen, wenn auch nur als schwacher Funke irgendwo am Ende des Tunnels.
Es war heiß. Unerträglich heiß. Aus dem Inneren der Erde wehte der Hauch der Hölle hervor.
»Worauf wartest du?« fragte Jennifer. Sie war vorausgegangen und bereits ein gutes Stück in den Tunnel vorgedrungen, während ich dicht hinter dem Eingang stehengeblieben war. Das Gewehr, das mir Harmfeld mitgegeben hatte, lag jetzt in meiner Armbeuge und war entsichert. Aber ich hatte das Gefühl, daß mir die Waffe bei dem, was uns hier erwartete, nicht sehr viel nutzen würde.
»Nicht so laut!« sagte ich warnend.
Jennifer seufzte. »Warum?« fragte sie spitz. »Hast du Angst, die Felswände könnten dich hören?«
Ich schenkte ihr einen bösen Blick und trat mit einem energischen Schritt neben sie; allerdings nicht, ohne mich noch einmal umzusehen.
»Vielleicht«, antwortete ich mit einiger Verspätung. »Wir sollten vorsichtig sein. Dagons Männer –«
»Dagon«, unterbrach mich Jennifer mit sonderbarer Betonung, »hat im Augenblick anderes zu tun, glaube mir.«
»Ist das eine Vermutung – oder weißt du es?«
»Ich weiß es«, sagte Jenny ungeduldig.
»Aber die Frage, woher, wirst du mir sicher nicht beantworten«, vermutete ich.
»Sicher nicht«, sagte Jennifer.
Ich seufzte, hob mein Gewehr ein wenig höher und blinzelte ein paarmal, damit sich meine Augen, die noch an das grelle, vom Meer zusätzlich reflektierte Sonnenlicht gewöhnt waren, schneller auf das rote Halbdunkel hier unten einstellten. Ich erkannte trotzdem kaum mehr. Vor uns waren Schatten und große Bereiche absoluter Finsternis, in denen sich eine ganze Armee hätte verbergen können, ohne daß ich sie gesehen hätte.
Ein immer stärker werdendes Gefühl der Beklemmung machte sich in mir breit, je weiter wir in den Stollen eindrangen. Bald schrumpfte der Eingang hinter uns zu einem Fleck zusammen, und das düstere, drohende Leuchten der Lava nahm zu. Die Hitze wurde unerträglich. Der Fels, über den wir gingen, war so heiß, daß ich es durch die Stiefelsohlen hindurch spürte.
Howards Worte klangen in mir nach: »Der Vulkan wird ausbrechen, in einer einzigen gewaltigen Eruption«, und mit einem Male schienen sie eine ganz andere, unheimliche Bedeutung zu gewinnen. Bisher war mir die Vorstellung erschreckend und beunruhigend vorgekommen, aber sie hatte mich trotz allem nicht wirklich erschreckt; irgendwie war der Gedanke zu abstrakt, wie die Nachricht von einem schrecklichen Unglück, das andere getroffen hat, aber jetzt – Gott im Himmel, dieser Vulkan würde in wenigen Stunden explodieren, und ich befand mich auf dem Weg in sein Zentrum!
Für einen Moment drohte mich Panik zu übermannen. Ich kämpfte sie nieder, aber es blieb eine starke Unruhe zurück. Meine Hände zitterten ganz leicht.
Nach einer Weile erreichten wir das Ende des Stollens. Zur Rechten erstreckte sich ein weiterer, gewölbter Gang, während sich der Tunnel zur Linken nach wenigen Schritten hinter einer Biegung verlor, hinter der das Zentrum des roten Glühens liegen mußte; den Geräuschen und der Hitze nach zu urteilen wohl nichts anderes als ein gigantischer Lavasee. Ich verspürte keine besondere Lust, in diese Richtung zu gehen.
»Gehen wir nach rechts«, schlug ich vor.
Jennifer antwortete nicht, aber das fiel mir erst auf, nachdem ich
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