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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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Nachmittagssonne auf die über den Tisch verstreuten Akten scheinen.
    Der Medicus spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Dies hier war eindeutig das Arbeitszimmer des Grafen!
    Ein letztes Mal sah er sich im Gang um, wo vom Krankenzimmer her noch immer das Schluchzen der Gräfin und das beruhigende Gemurmel ihres Mannes zu hören waren. Nach kurzem Zögern schlüpfte Simon in die Kammer und eilte auf den Tisch zu. Fieberhaft durchforstete er die Akten, die alle in Latein geschrieben waren und sich ganz offensichtlich mit den Reliquien des Klosters befassten. Unwillkürlich stutzte er.
    Was in Herrgottsnamen hatte der Graf mit den Reliquien zu schaffen?
    Simon entdeckte eine Liste, auf der Dutzende von Gegenständen aus der Heiligen Kapelle verzeichnet waren, darunter das Siegeskreuz Karl des Großen, die Stola des heiligen Nikolaus und ein Schweißtuch vom Ölberg.
    Andere alte Pergamentrollen beschäftigten sich mit der Geschichte der Wittelsbacher und mit der des Klosters. Hastig überflog Simon die Zeilen, die von der früheren Burg der Andechs-Meranier kündeten, von ihrer Zerstörung durch die Wittelsbacher und von der Gründung des Klosters Andechs. Simon erfuhr von der wundersamen Wiederentdeckung der Reliquien, die bei der Erstürmung der Burg versteckt worden und erst Jahrhunderte später dank einer Maus wieder ans Tageslicht gelangt waren. Er las von den größer werdenden Pilgerströmen und davon, dass die Reliquien in Zeiten des Krieges noch mehrmals versteckt oder fortgeschafft worden waren. All dies war für Simon nichts wirklich Neues, er wusste es bereits aus der kleinen Andechser Chronik. Neu war allerdings ein weiteres Pergament, das unter vielen anderen auf dem Tisch lag.
    Es war ein Plan.
    Die an den Ecken eingerissene und teilweise von Brandflecken zerstörte Karte zeigte ganz deutlich die Umrisse einer Burg. Gänge waren darauf verzeichnet, die sich labyrinthisch verzweigten und an mehreren beschrifteten Ausgängen endeten. Rundum war mit einigen hingekrakelten Bäumen ein Wald angedeutet, weiter unten schien ein See zu liegen. Auch einige skizzierte Felsen waren zu erkennen. Daneben standen ein paar eilig hingekrakelte Worte, die Simon erst nach einer Weile entziffern konnte.
    Hic est porta ad loca infera …
    »Hier ist das Tor zu den unterirdischen Orten«, murmelte er nachdenklich. »Was in Gottes Namen …«
    Eben beugte sich Simon tiefer über den Plan, als ihn ein Geräusch herumfahren ließ. Schritte hallten über den Gang! Panisch sah sich der Medicus nach einer Fluchtmöglichkeit um. Doch alles, was er entdeckte, war das große gläserne Fenster an der Rückwand des Zimmers. Er lief darauf zu, drehte den Knauf in der Mitte und öffnete es. Als er hinunterblickte, spürte Simon, wie seine Beine weich wurden.
    O Gott, lass das nicht den einzigen Ausweg sein!
    Zwei Stockwerke unter ihm gähnte der Boden des menschenleeren Klosterhofs. Ein schmaler, gerade handbreiter Sims zog sich unterhalb des Fensters an der gesamten Fassade entlang.
    Die Schritte im Flur hielten inne, sie verharrten direkt vor der Tür des Arbeitszimmers. Simon bekreuzigte sich ein letztes Mal, dann trat er hinaus auf den Sims, schloss das Fenster und schob sich einen Schritt nach rechts, so dass er vom ­Arbeitszimmer aus nicht mehr zu sehen war. Es war keine Sekunde zu früh. Gleich darauf hörte er, wie die Klinke heruntergedrückt wurde und jemand den Raum betrat.
    Hoffentlich sieht er nicht, dass das Fenster nur angelehnt ist! , fuhr es Simon durch den Kopf. Wenn der Graf das Fenster schließt, kann ich nur noch springen oder höflich anklopfen und um meine Erhängung bitten.
    Mit einem Mal vernahm er, wie drinnen der Lehnstuhl verschoben wurde.
    Er setzt sich! Der Graf setzt sich! Heilige Jungfrau Maria, lass ihn bitte kein Nickerchen machen! So lange halt ich es hier draußen nicht aus!
    Simon versuchte nicht nach unten zu schauen, doch aus den Augenwinkeln sah er immer wieder den Boden, der sich zehn Schritt unter ihm befand und sich allmählich zu neigen schien. Er spürte, wie ihm schwarz vor Augen wurde, seine Beine fühlten sich an wie morsches Holz. Eine unsichtbare Kraft schien ihn in den Abgrund zu ziehen.
    Endlich, als er die Hoffnung gerade aufgeben wollte, war wieder das Scharren des Lehnstuhls zu hören. Die Tür zum Gang öffnete sich quietschend und schloss sich dann wieder.
    Simon wartete noch einige Sekunden, dann schob er sich vorsichtig auf das Fenster zu. Von der Seite warf er

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