Der Hexer und die Henkerstochter
Es hörte sich an, als würde der Leichnam leise vor sich hin murmeln.
Magdalena saß auf der Bank vor dem Schinderhaus und wartete mit wachsendem Ärger darauf, dass Simon aus der Apotheke zurückkam. Über eine Stunde war er bereits verschwunden! Was tat er dort nur so lang? Wahrscheinlich war er mit diesem hässlichen Schwarzkittel in irgendein Gespräch über Alraunenwurzeln oder Seidelbast verwickelt und hatte sie völlig vergessen.
Ungeduldig sah sie Michael Graetz zu, wie er den stinkenden Kadaver eines Pferdes auf seinen Karren hievte. Trotz der anstrengenden Arbeit summte der Schinder ein Landserlied, er schien vollkommen mit sich und der Welt zufrieden. Ihm zur Seite stand ein stämmiger junger Mann, der mit einem Seil den toten Gaul über die Ladefläche zog. Magdalena hatte von Graetz erfahren, dass es sich um seinen Gehilfen Matthias handelte.
Plötzlich musste die Henkerstochter an ihren Vater zu Hause denken, der dort ebenfalls für die Beseitigung der toten Tiere zuständig war. Im Angesicht ihres in Lumpen gekleideten Vetters schwor sich Magdalena einmal mehr, dass ihre Kinder es dereinst besser haben sollten. Peter und Paul würden keine ehrlosen Scharfrichter, keine Schinder oder Folterknechte werden, sondern Ärzte oder Bader, so wie ihr Vater einer war.
Der trockene Pferdemist ließ sie plötzlich niesen, und Michael Graetz warf ihr einen besorgten Blick zu. »Möge der heilige Blasius verhüten, dass dich das Fieber holt«, murmelte er.
»Schmarren!«, zischte Magdalena und schnäuzte sich ausgiebig mit einem Fetzen Tuch aus ihrer Rocktasche. »Ich hab halt niesen müssen, das ist alles. Hört endlich auf, so zu tun, als hätt ich die Pest.«
Der kräftige Gehilfe des Schinders grinste sie an und machte ein undeutliches Geräusch, das Magdalena für ein Lachen hielt.
»Was ist?«, fauchte sie. »Ist irgendetwas an mir komisch? Hängt mir der Rotz aus der Nase? Spuck’s schon aus, du Hallodri!«
»Der Matthias kann dir nicht antworten«, erwiderte Michael Graetz anstelle seines Gehilfen. »Er hat keine Zunge mehr.«
»Er hat was?«
Der Schinder zuckte mit den Schultern und sah mitleidig zu dem kräftigen Mann herüber, der sich wieder ganz seiner Arbeit widmete. »Kroatische Söldner haben ihm die Zunge herausgeschnitten, als er noch ein kleiner Bub war«, erklärte Michael Graetz leise. »Sie wollten seinen Vater, den Friedinger Wirt, zwingen, ihnen das Versteck seiner Ersparnisse zu verraten.« Der Schinder seufzte. »Dabei hat der arme Mann gar nichts gehabt! Am Ende haben sie ihn drüben am Erlinger Galgenbichl aufgehängt, und der Junge musste zusehen.«
Magdalena starrte den hochgewachsenen Gehilfen entsetzt an. »O Gott, das tut mir leid. Ich wusste nicht …«
»Mach dir nichts draus. Er wird’s dir schon verziehen haben. Matthias ist ein guter Mann. Ein wenig menschenscheu, aber wir haben ja ohnehin mehr mit den toten Tieren zu schaffen.«
Michael Graetz lachte, und sein Gehilfe stimmte mit einem heiseren Keuchen ein. Verschmitzt grinste er Magdalena an. Er hatte ein schön geschnittenes Gesicht und volle rotblonde Haare, unter dem schwarzen Kittel strotzten Armmuskeln wie die eines Schmiedgesellen.
Wenn sie dir nicht die Zunge rausgeschnitten hätten, wärst du bestimmt der Stenz im Dorf, dachte Magdalena unvermittelt. Wobei ich mir bei manchen Männern ohnehin wünsche, sie würden öfter ihre Gosch’n halten.
»Dann nichts für ungut«, sagte sie und stand auf. »Ich glaub, ich werd mir ein wenig die Beine vertreten. Der Simon kommt ja doch nicht mehr.« Mit einem letzten Kopfnicken in Richtung des stummen Gehilfen ging Magdalena über den Trampelpfad auf das Dorf zu, als gerade die Glocken zu läuten begannen.
»Wo willst du hin?«, rief ihr Michael Graetz zwischen den Glockenschlägen hinterher. »Dein Mann hat gesagt …«
»Mein Mann hat mir gar nichts zu sagen!«, schimpfte Magdalena. »Wenn ich wirklich krank wär, würd er nicht so lange für einen Plausch mit dem Apotheker verschwinden. Und jetzt kümmer dich um dein totes Pferd und lass die Lebenden zufrieden!«
Mit schnellen Schritten strebte sie dem Kloster zu, wo es jetzt, am späten Morgen, von Pilgern und Handwerkern wimmelte. Das Gehen und die frische Luft taten ihr merklich gut. Der Geruch des Schinderhauses hatte sie zu sehr an ihr eigenes Zuhause in Schongau erinnert, an die bösen Blicke und das Zischen der Mitbürger, an das Gefühl, wie es war, eine Ausgestoßene zu sein –
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