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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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aus. Am Westufer des Ammersees ragte der Turm des ­Dießener Augustinerklosters empor, links davon erhob sich der Hohenpeißenberg und versperrte die Sicht auf ihre Heimatstadt, die nur wenige Meilen dahinter liegen mochte. Hier vom Kirchturm aus schien alles so nahe zusammengerückt, dass ihre zweitägige Pilgerreise wie ein gemütlicher Spaziergang aussah.
    Plötzlich zerrte Wind an Magdalenas Haaren, eine Böe kam auf, und sie klammerte sich an einem Holzbalken fest, um nicht abzustürzen. Als sie sich wieder gefangen hatte, konnte sie endlich das Innere des vom Blitz zerstörten Turmzimmers betrachten.
    Die Mauern waren rußgeschwärzt und durch die Hitze teilweise geborsten, hinter den leeren Fenstern schimmerte der blaue Himmel. In der Mitte des Dachstuhls hingen in einem eisenbeschlagenen Holzgerüst drei Glocken, die den Flammen getrotzt hatten. Der Boden ringsherum war zum größten Teil durchgebrannt, so dass Magdalena zwischen den Balken hindurch in die gähnende Tiefe blicken konnte. Ein frisches Seil baumelte vom Glockenstuhl hinab.
    Mit einem Mal fiel Magdalena ein, dass sie heute früh bereits Glocken gehört hatte. War es also nur der Turmwär ter gewesen, der in der Nacht nach dem Rechten gesehen hatte? Sie runzelte die Stirn. Aber was in aller Welt hatte ein Turmwärter in stockdunkler Nacht hier oben verloren?
    Magdalena beschloss, über die Balken hinüber zu den Glocken zu balancieren, von dort aus konnte sie den Raum am besten überblicken. Dabei vermied sie es tunlichst, nach unten zu sehen. Solange sie einen Fuß vor den anderen setzte und die Augen starr geradeaus richtete, fühlte sie sich einigermaßen sicher.
    Endlich hatte sie die mächtigen Bronzeglocken erreicht. Sie umklammerte die Kleinste der drei, fühlte das kühle Metall unter ihren Händen und atmete erleichtert auf. Der Schwindel war völlig verschwunden. Es war, als hätte die Anstrengung neue Kräfte in ihr geweckt und sie kuriert. Als sie sich vorsichtig aufrichtete, um auf die andere Seite des Raums hinter den Glocken zu spähen, entdeckte sie mit einem Mal etwas Merkwürdiges.
    An der gegenüberliegenden Wand lehnte hochkant eine Art Bahre, an deren Rändern mehrere Metallklammern befestigt waren. Am Boden davor lagen einige blankpolierte Eisenstangen. Irgendetwas quietschte. Als Magdalena den Blick nach oben richtete, sah sie von der Decke direkt über der Bahre einen fingerdicken Draht wie eine Galgenschlinge im Wind hin und her schwingen.
    Gerade wollte Magdalena sich der merkwürdigen Konstruktion nähern, als sie ein Geräusch zu ihrer Rechten herumfahren ließ.
    Eine schwarze Gestalt raste auf sie zu. Sie glich einer mensch­gewordenen Fledermaus, die im Gebälk des Turmes geschlafen hatte und nun über den Störenfried herfiel. Der Schemen trug einen schwarzen Umhang und eine Kapuze, so dass Magdalena sein Gesicht nicht erkennen konnte.
    Im nächsten Augenblick war er über ihr.
    Magdalena taumelte, ihre Hände glitten an dem glatten Metall der Glocke ab, die Füße traten plötzlich ins Leere. Sie fiel durch eine Ritze zwischen den verkohlten Bodenstreben, wobei etwas Scharfes an ihrem Oberschenkel entlangratsch­te. Im letzten Moment streckte sie die Hände aus und umfasste einen Holzbalken über sich. Die Handgelenke schienen ihr beinahe aus den Sehnen zu springen, aber sie hielt sich mit aller Kraft an dem Balken fest. Während Magdalena wild hin und her schaukelte, starrte sie mit pochendem Herzen hinunter in den Abgrund. Ihr wurde kurz schwarz vor Augen. Da hörte sie Schritte auf der Treppe unter sich, die schwarz gewandete, vermummte Gestalt tauchte auf und hastete die Stufen hinunter. Es sah fast aus, als würde sie fliegen. Einen Augenblick später war der Mann im Hauptschiff der Kirche verschwunden.
    Wie ein dünner Ast im Wind schwang Magdalena am Balken hin und her. Sie wusste, dass ihre Kraft nicht mehr lange ausreichen würde. Tränen des Zorns und der Verzweiflung rannen ihr übers Gesicht. Mit letzter Anstrengung hievte sie sich nach oben, als sie plötzlich, nur zwei Armlängen von sich entfernt, das Glockenseil hängen sah.
    Würde sie es bis dorthin schaffen?
    Zentimeter für Zentimeter arbeitete sie sich auf ihr Ziel zu. Einmal rutschte sie mit der linken Hand ab und konnte sich gerade noch festhalten, doch endlich war sie nahe genug. Mit einem heiseren Keuchen warf sie sich dem rettenden Seil entgegen und hielt sich daran fest. Das Tau krampfhaft umklammert, stürzte sie ein, zwei Meter nach

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