Der Hexer und die Henkerstochter
um ihre kupfernen Beine, die Haare waren sorgfältig hochgesteckt, die roten Lippen hatten die Farbe frischen Blutes.
Die menschenähnliche Puppe rollte noch einige Meter, dann hielt sie in der Mitte des Raumes an. Die Melodie wurde langsamer und langsamer, schließlich verstummte sie ganz.
Mit einem steifen Grinsen im Gesicht bewegte Simon seine Augen so weit nach unten, dass er den Automaten auch weiterhin sehen konnte. Einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen, nur das leise Zwitschern des Vogels war zu hören.
Die Puppe lächelte und schwieg.
Plötzlich ging ein Rucken durch den Automaten, es knackte und ratterte in seinem Inneren, der Oberkörper in dem eng taillierten Kleid wippte wild hin und her. Kurz war es, als würde die Maschine zur Seite kippen, dann klappten plötzlich die Lippen auf wie die Schneiden einer scharfen Schere.
Simon versuchte zu schreien, doch kein Wort drang aus seiner Kehle. Stattdessen musste er mit ansehen, wie seine schlimmsten Vorstellungen Gestalt annahmen.
Aus dem Inneren der Puppe erklang ein Quietschen wie ein Uhrwerk, das lange nicht mehr geölt worden war, dann ertönte eine heisere hohe Stimme.
»Sei gegrüßt, Bader. Ich habe schon lange auf jemanden gewartet, der mir ein wenig die Zeit vertreibt. Du gibst ein hübsches Spielzeug ab, findest du nicht?«
Aurora hatte zu sprechen begonnen.
Zitternd vor Kälte eilte Magdalena mit ihrem Vater den niedrigen Felsgang entlang, der sie immer tiefer in das Innere des Berges führte.
Seit sie die Höhle betreten hatten, war vielleicht eine gute halbe Stunde vergangen – allerdings war sich die Henkerstochter dessen nicht ganz sicher. Die Zeit schien hier unten langsamer zu vergehen. Hinzu kam, dass es stockfinster war. Nur die Fackel ihres Vaters verbreitete einen kleinen warmen Kreis von Licht, dahinter herrschte tiefe Dunkelheit.
Bislang hatten sie nichts Auffälliges entdecken können. An die von der Einsiedlerin bewohnte Höhle hatte sich ein Tunnel angeschlossen, in dem zunächst Treppenstufen in die Tiefe führten. Seit einiger Zeit gingen sie nun geradeaus. Gelegentlich waren die beiden Kuisls auf Nischen gestoßen, in denen morsche Holzstücke, Teile rostigen Eisens und verblichene Knochen lagen. Doch weder Jakob Kuisl noch Magdalena hatten sie sich näher angesehen. Irgendwo hier unten, da war sich Magdalena sicher, waren ihre Kinder – entführt von einem Wahnsinnigen, dem sie auf die Schliche gekommen waren. Und so wie es aussah, hatte der Unbekannte nun auch noch ihren Mann in seine Gewalt gebracht!
Verzweifelt dachte Magdalena daran, dass der Entführer ganz offensichtlich annahm, sie wüssten mehr über ihn. Dabei war das überhaupt nicht der Fall. Noch immer hatten sie keine Ahnung, wer der Hexer von Andechs sein könnte. Der Prior? Der Wittelsbacher Graf? Oder vielleicht jemand anders, den sie noch gar nicht kannten?
Die Angst um ihre Kinder und um Simon schnürte Magdalena die Kehle zu. Sie lief wie in Trance hinter ihrem Vater her. Ein paarmal stieß sie sich an der niedrigen Decke den Kopf an, doch sie spürte kaum einen Schmerz. Auch Jakob Kuisl schien wie von Sinnen, noch nie hatte sie ihn so zornig gesehen.
»Wenn er den zwei Schrazn was angetan hat, dann gnade ihm Gott!«, zischte er, während sie erneut an ein paar fauligen, mit Moos bewachsenen Balken und Knochen vorbeikamen. »Er wird sich wünschen, nie geboren worden zu sein, die Drecksau!«
Magdalena fiel ein, dass die alte Eremitin vor der Höhle von einem Helfer gesprochen hatte. Konnte es ihr Vater auch mit zwei Entführern aufnehmen? Mittlerweile zählte der Schongauer Henker mehr als fünfzig Sommer, und auch wenn er sich nichts anmerken ließ, so waren seine Bewegungen doch nicht mehr so geschmeidig wie früher. Vorhin, als die verrückte Einsiedlerin auf ihn eingeschimpft hatte, war er Magdalena zum ersten Mal alt vorgekommen.
Mit einem Mal blieb Jakob Kuisl stehen. Vor ihnen befand sich eine Abzweigung, von der zwei genau gleich aussehende Gänge wegführten. Aus dem einen wehte ihnen ein leicht modriger Geruch entgegen, der andere brachte frische Luft heran.
»Und jetzt?«, fragte Magdalena und wandte sich an ihren Vater. »Sollen wir uns aufteilen?«
Jakob Kuisl sah sie skeptisch an. »Damit du diesem Hexer allein in die Arme rennst?«, brummte er. »Nichts da! Es reicht schon, wenn ich meine Enkel und meinen hasenfüßigen Schwiegersohn an diesen Halunken verloren hab, nicht auch noch meine Tochter.«
Kuisl
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